Kein End-, sondern ein Wendepunkt: Politische Errungenschaften verteidigen

Warum ein CSD weiterhin notwendig ist

von | veröffentlicht am 25.09 2018

Beitragsbild: per.spectre

Trotz weitgehender rechtlicher Gleichstellung für LSBTIQ in Deutschland bleibt für Aktivist*innen auf diesem Feld viel zu tun. Denn bis hin zur Akzeptanz für LSBTIQ in der deutschen Bevölkerung scheint es noch ein langer Weg zu sein. Das aktuelle gesellschaftliche Klima droht sogar Rückschritte zu bringen.




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Ohne Zweifel hat sich die Lebenssituation von LSBTIQ in den letzten Jahrzehnten um ein Vielfaches spür- und sichtbar verbessert. Hierzulande sind die Erfolge ihrer politischen Kämpfe vor allem im Bereich der Gesetzgebung zu beobachten. Das vergangene Jahr stellt in diesem Zusammenhang ein historisches dar. Seit Oktober 2017 ist es gleichgeschlechtlichen Paaren auch in Deutschland erlaubt, den staatlich beglaubigten Bund der Ehe einzugehen, wie es heterosexuellen Beziehungen seit jeher selbstverständlich gestattet war. Ebenfalls im letzten Jahr beschlossen wurde die juristische Rehabilitierung und finanzielle Entschädigung der meisten schwulen und bisexuellen Männer, die in der Vergangenheit durch den homophoben Strafrechtsparagrafen 175 verurteilt wurden.

Im letzten Monat erst segnete das Bundeskabinett zudem einen Entwurf zur Änderung des Personenstandsgesetzes ab, das künftig eine alternative dritte Möglichkeit des Geschlechtseintrages neben Mann und Frau vorsieht. Nachdem die Bundesregierung also jahrelang anderen Staaten in derartigen Belangen hinterherhinkte, kommen LSBTIQ nun auch hierzulande in den Genuss weitgehender rechtlicher Gleichstellung.


Gleichstellung vor dem Gesetz bedeutet noch lange keine Gleichstellung in der Gesellschaft.


Vor allem von konservativer Seite wird nun moniert, dass sich LSBTIQ doch dankbar zeigen und endlich zufriedengeben sollten. Als hallesche Aidshilfe wollen wir demgegenüber jedoch betonen, dass das Erreichte für uns noch lang keine Zufriedenheit verheißt. Gleichstellung vor dem Gesetz bedeutet nämlich noch lange keine Gleichstellung in der Gesellschaft. Unübersehbar werden Menschen, die nicht der sexuellen oder geschlechtlichen Norm der heteronormativen und patriarchalen Gesellschaft entsprechen, auch weiterhin einer beständigen Diskriminierung, Stigmatisierung und Marginalisierung ausgesetzt. So zeigen aktuelle Studien, dass es sich bei der zunehmenden Akzeptanz für LSBTIQ in der deutschen Bevölkerung lediglich um eine Scheinakzeptanz, ja bestenfalls um Toleranz handelt. Viele Deutsche wollen mit dem Thema nichts zu tun haben, mit lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen am liebsten gar nicht erst in Berührung kommen. Große Teile der Bevölkerung finden es schlichtweg unangenehm oder gar ekelerregend, wenn sich gleichgeschlechtliche Paare in der Öffentlichkeit Zuneigung zeigen.

Besorgniserregende gesellschaftliche Entwicklung

Für viele LSBTIQ vergeht daher kaum ein Tag, an dem sie nicht am Arbeitsplatz, im Bekanntenkreis oder in der Familie Vorurteilen und Ressentiments begegnen. Es vergeht kaum ein Tag, an dem sie ihre Identität, ihr Auftreten und ihre Beziehungen nicht erklären und rechtfertigen müssten. Es vergeht kaum ein Tag, an dem sie sich nicht noch einmal misstrauisch umsehen, bevor sie auf offener Straße die Hand einer geliebten Person ergreifen oder diese zu küssen wagen. Für einige vergeht sogar kaum ein Tag, an dem sie nicht befürchten müssen, beleidigt, bespuckt oder gar angegriffen zu werden, wenn sie sich unangepasst verhalten oder im falschen Viertel bewegen. Die formale Liberalisierung – so zeigt sich tagtäglich auf erschreckende Weise – ist also keineswegs Ausdruck einer tatsächlichen gesellschaftlichen Anerkennung.

Vor dem Hintergrund der aktuellen gesellschaftspolitischen Entwicklung erscheint uns dies besonders besorgniserregend. Seit einiger Zeit erleben wir das scheinbar unaufhaltsame Erstarken rechtsnationaler, völkischer und reaktionärer Kräfte. Bewegungen wie die selbsternannten „besorgten Eltern“ oder Parteien wie die vermeintliche „Alternative für Deutschland“ hetzen mit Kampfbegriffen wie „Frühsexualisierung“, „Gender-Gaga“ oder „Regenbogen-Trallala“ gegen sexuelle und geschlechtliche Minderheiten. Dabei handelt es sich um den Versuch, einer „konservativen Revolution“ Vorschub zu leisten, mit der die Grundpfeiler einer pluralistischen Gesellschaft und die Errungenschaften der LSBTIQ-Bewegung infrage gestellt werden sollen.

In kaum einem Bundesland lässt sich die reaktionäre Geschlechter- und Sexualpolitik, die hierbei verfolgt wird, so paradigmatisch beobachten wie in Sachsen-Anhalt. So setzt sich die AfD seit ihrem Einzug in das hiesige Landesparlament für die sofortige Abschaffung des „Aktionsprogramms für die Akzeptanz von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendern und intergeschlechtlichen Menschen (LSBTI)“ ein. Ihre Strategie ist dabei so perfide wie beispielhaft. So werden die Aufklärungs- und Präventionsbemühungen stets in die Nähe von sexuellem Kindesmissbrauch und Indoktrination gerückt und bedienen damit das gängige homophobe Ressentiment der schwulen Päderastie. Indem sie das Programm dann noch als groß angelegte gesellschaftliche Umerziehungsmaßnahme darstellen, mit der einer sexuellen Minderheit zur Überprivilegierung verholfen werden soll, wird zudem noch die absurde Verschwörungstheorie der vermeintlich übermächtigen Homolobby angestimmt. Wie ernst es der AfD mit derartigen Forderungen ist, wird spätestens dann erschreckend ersichtlich, wenn ihre Parteifunktionäre Haftstrafen für Homosexuelle fordern, wie in einer Landtagssitzung im Juni 2016 geschehen.


Es ist anzunehmen, dass die meisten ihrer Wähler und Wählerinnen gerade wegen der homophoben, rassistischen und völkischen Grundhaltung der AfD ihre Stimme gegeben haben.


Dass sie bei ihrem (v)erbitterten Kulturkampf gegen die Vielfalt der Gesellschaft, die sie in ihrer Einfalt weder verstehen noch ertragen können, auf einen dankbaren gesellschaftlichen Resonanzboden bauen können, zeigen die Wahlergebnisse der Bundes- und Landtagswahl. Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, dass die AfD nur von politisch Enttäuschten und sozial Abgehängten gewählt wurde. Vielmehr ist anzunehmen, dass die meisten ihrer Wähler und Wählerinnen nicht trotz, sondern gerade wegen der homophoben, rassistischen und völkischen Grundhaltung der AfD ihre Stimme gegeben haben.

Wenn es nach den Konservativen geht, sollen LSBTIQ um ihre sexuellen und geschlechtlichen Identitäten ja nicht zu viel Aufhebens machen und sich doch bitte endlich zufriedengeben mit dem, was ihnen die heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft netterweise zugesteht. Wenn es nach der AfD und ihrer Wählerschaft sowie den „besorgniserregenden Eltern“ geht, sollen sie am besten gleich wieder ganz und gar ins Private, wieder ins Verstecken verschwinden.

Politische Errungenschaften verteidigen

Als Aidshilfe Halle betrachten wir diese politische Entwicklung mit großer Sorge, da zu befürchten, ja bereits zu spüren ist, dass das soziale Klima für LSBTIQ hierzulande zunehmend rauer und unwirtlicher werden wird. Wir stehen insofern keineswegs am End-, sondern vielmehr an einem entscheidenden Wendepunkt der LSBTIQ-Bewegung. Diese kann sich nicht mit den politischen Erfolgen der letzten Jahre zufriedengeben. Vielmehr ist sie aufgefordert – ja sogar gezwungen – eine deutliche Antwort auf den gesellschaftlichen Rechtsruck zu finden. Es gilt dabei, die bisher sicher geglaubten politischen Errungenschaften zu verteidigen und um ein Mehr an Anerkennung und Akzeptanz zu kämpfen.

Das Streiten um einen gesellschaftlichen Zustand, in dem LSBTIQ ein selbstbestimmtes und repressionsfreies Leben führen können, wird also weitergehen. Der Christopher-Street-Day stellt in diesem Zusammenhang einen nach wie vor bedeutenden politischen Kampftag dar. Ihn wird es so lang geben (müssen), bis wir in einer pluralistischen Gesellschaft leben, die menschliche Vielfalt und solidarisches Miteinander wertschätzt und in der Menschen ohne Angst verschieden sein, leben und lieben können.

Der Dringlichkeit folgend, die Bewegung erneut politisch klarer und kämpferischer zu positionieren, haben wir als hallesche Aidshilfe in diesem Jahr die erste CSD-Demonstration in Halle seit 21 Jahren organisiert. Mit dem Motto „Community, Solidarity, Diversity“ wollten wir deutlich machen, was uns als Bewegung eint und was notwendig ist, um sich gegen die politischen Angriffe auf LSBTIQ zur Wehr zu setzen. Über 600 vor allem junge Menschen zogen mit uns gemeinsam durch die Stadt, haben LSBTIQ Sichtbarkeit verliehen und die Forderungen der Bewegung auf die Straße getragen. Sie haben deutlich gemacht, dass die reaktionären Bestrebungen, die gerade die Zeit um einige Jahrzehnte zurückdrehen wollen, kein leichtes Spiel haben werden, sondern vielmehr mit erbittertem Widerstand rechnen müssen.

LSBTIQ wollen sich offenbar nicht zufriedengeben und erneut ins Verstecken begeben. Sie weichen auch keinen Meter vor der rechten Hetze, die heute allerorts zu vernehmen ist. Und das zumindest stimmt dann doch wieder ein wenig hoffnungsfroh.

Info

Martin Thiele ist Geschäftsführer der AIDS-Hilfe Halle/Sachsen-Anhalt Süd e.V.

Die AIDS-Hilfe Halle versteht sich als sexuelle Gesundheitsagentur. Politisch kämpft sie für einen gesellschaftlichen Zustand, in dem Menschen ohne Angst verschieden sein, lieben und leben können.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.