In Erinnerung an Lucille, Martina, Christian & Andreas – In Erinnerung an alle Menschen, die aufgrund des ableistischen Systems sterben mussten.
Perspektiven auf Praktiken ableistischer Gewalt und (anti-)ableistischen Erinnerns
Wir wollen an Lucille, Martina, Christian und Andreas erinnern, die heute vor 2 Jahren ermordet wurden. Sie wurden in einer Sonderwelt für behinderte Menschen unter christlicher Trägerschaft getötet. In dem Artikel sollen die Berichterstattung um die Tötungen nachgezeichnet und kritisiert werden und ableistische Strukturen sichtbar gemacht werden. Die Tötungen in Potsdam waren kein Einzelfall.
Vor zwei Jahren wurden die Leben von Lucille, Martina, Christian und Andreas – vier Menschen, die in einer Sonderwelt zur Ausgrenzung behinderter Menschen lebten – beendet. Sie wurden getötet. Eine weitere Person überlebte schwer verletzt. Die Getöteten lebten zum Teil schon seit vielen Jahren dort, zum Teil mussten sie erst vor kurzem einziehen. Diese Sonderwelt ist die unter christlicher Trägerschaft stehende Oberlinklinik in Potsdam-Babelsberg.
potsdamgedenken_transit@riseup.net
Im Folgenden wollen wir einige Erkenntnisse aus einer Forschungsarbeit als Studierende teilen, in der wir uns angeschaut haben, wie die Morde in Potsdam verhandelt wurden. Wir schreiben als zwei Personen, eine von uns ist behindert. Für unsere Arbeit haben wir uns verschiedene Zeitungs- und Blogeinträge im Zeitraum nach den Tötungen angeschaut sowie zwei Interviews mit behinderten Menschen geführt. Eine dieser Personen war Uwe Frevert vom Verein „Selbstbestimmt Leben Nordhessen e.V.“. Ziel unserer Arbeit war es dabei, nicht nur Verhältnisse zu beschreiben, sondern auch gesellschaftliche Veränderungen aktiv mitzugestalten. Im Folgenden wollen wir einige Erkenntnisse teilen und dabei den Schwerpunkt auf anti-ableistische Analysen und Praktiken legen.
Wir stellten zunächst fest, dass von Beginn an Analysen behinderter Aktivist*innen in bestimmten Zeitungen und Berichten wie z.B. Die Neue Norm sowie Kobinet zu sehen waren, welche die Tat als ableistisch benannten, das Schweigen der Zivilgesellschaft anklagten und die Trauer um die Ermordeten zum Ausdruck brachten. Demgegenüber wurde in den Berichten größerer Medien (u.a. Zeit, RTL sowie dpa) ein großes Unverständnis über die Gründe der Tat deutlich: Exemplarisch lässt sich die Die Zeit am 29.04.2021 zitieren: „Vier Heimbewohner in Potsdam getötet – ‚Gott, warum?‘“. Es erscheint notwendig, auf eine abstrakte, alles im Blick habende Instanz zurückzugreifen, da andere Gründe unerklärlich erscheinen. Stimmen von behinderten Menschen sowie selbstorganisierten behinderten Initiativen hätten bei der fehlenden Analyse Hilfe leisten können, doch sie wurden nicht beachtet und nicht zitiert.
Dieses Beispiel verweist auf grundsätzlich verschiedene Logiken, welche genutzt wurden, um die Tötungen zu erfassen. Während von großen Medien aufgrund eines fehlenden Verständnisses von strukturellem Ableismus die Tat individualisiert wird, die Täterin und ihre möglichen psychischen Diagnosen in den Vordergrund gesetzt werden und behinderte Menschen nicht als Expert*innen angesehen werden, wird von behinderten Menschen die strukturelle Gewalt in Sonderwelten[1], Abhängigkeiten behinderter Menschen und Kontinuitäten von Ableismus betont.
Eine dieser Positionen wollen wir im Folgenden anhand des Interviews mit Uwe Frevert vom Verein Selbstbestimmt Leben Nordhessen e.V. genauer vorstellen. In unserem Interview betont er an verschiedenen Stellen, dass es um Machtverhältnisse gehe, welche gesamtgesellschaftlich und insbesondere in Sonderwelten wirksam werden. Ausgehend von seinen eigenen Erfahrungen als behinderter Mensch analysiert er das System der Sonderwelten und ordnet damit auch die Tötungen in Potsdam in einen größeren ableistischen Kontext ein. Er beschreibt, dass ihn die Nachricht aufgrund seiner eigenen Erfahrungen nicht so sehr schockierte und vielmehr eine Kontinuität ableistischer Gewalt in den Sonderwelten darstellt:
„Dieses Morden oder dieses Verletzen in diesen Behinderteneinrichtungen als behinderter Mensch [hat mich] mein Leben lang eigentlich auch begleitet und ich hab immer wieder in den Einrichtungen diese Tötungen oder das Abspritzen von irgendwelchen Pflegekräften, von alten Leuten, auch immer wieder erlebt und auch dokumentiert und gesammelt, weil es ist halt ein Phänomen, was in dieser Gesellschaft oder auch in anderen Gesellschaften immer wieder zu finden ist.“
Die Sonderwelten sind für Frevert gekennzeichnet durch hierarchische Strukturen und Machtverhältnisse, welche auch gewollt sind, „weil man diese Leute in Abhängigkeit halten will, weil man nicht will, dass sie selbstbestimmt leben, weil man ihnen diese Macht gar nicht geben will. Lebenshilfe, Caritas und Co. wollen diese Macht für sich behalten und sie tun dieses Wissen auch nicht weitergeben.“ Die in den Sonderwelten arbeitenden Pfleger*innen haben Macht über die Bewohner*innen und „bestimmen, wann du auf die Toilette gehst, wann du duschst. Sie haben juristisch die Macht dazu, das zu bestimmen und nicht der Versicherte, die behinderte Person selbst.“ Diese Strukturen sind dabei historisch gewachsen und etabliert. Frevert betont, dass sich anhand der Sonderwelten sowie in der Medizin zeigen lässt, dass es keine Entnazifizierung gegeben hat: Nationalsozialistisches Wissen wurde insbesondere durch Professor*innen, die während des NS tätig waren, an Studierende weitergegeben. Die damals etablierten, tödlichen Strukturen der Sonderwelten setzen sich bis heute fort.
Anhand von gesamtgesellschaftlichem Ableismus und damit verknüpften wirtschaftlichen Interessen begründet Frevert, warum es keine Veränderung in den Strukturen und in der Trennung der Sonderwelten gegeben hat. Durch die Träger der Sonderwelten, wozu auch Behindertenwerkstätten gehören, wie „Lebenshilfe, Caritas und Co.“, kann der Staat seine Verantwortung in Bezug auf behinderte Menschen auslagern. Gleichzeitig profitieren die Träger der Sonderwelten von dem Deal mit dem Staat: Sie kriegen Geld, können gleichzeitig behinderte Menschen durch eine kapitalistisch orientierte Effizienzlogik ausbeuten und strukturell unterversorgen. Dabei macht Frevert weiterführend den Widerspruch sichtbar, welcher in diesen Trägerschaften – wie z.B. in Potsdam auch der Fall – steckt: Als oftmals christliche Träger betonen sie ihren „fürsorglichen, teilweise christlichen Charakter“, während sie gleichzeitig dieses gewaltvolle, ableistische System stützen und behinderte Menschen von ihren unterstützenden Kontexten trennen.
Gegen diese Kontinuitäten ableistischer Gewalt in Staat und Trägern der Sonderwelten betont Frevert die jahrzehntelangen Kämpfe, durch welche seine Mitstreiter*innen und er eine Machtverschiebung zwischen behinderten und nicht-behinderten, pflegenden und pflegebedürftigen Personen erreichen wollen. Dies ist wichtig, „damit die Menschenrechte gewahrt werden“ und Hierarchien abgebaut werden können. Diese Machtverschiebung sieht er vor allem darin, dass behinderte Menschen ihre Assistenz selbstbestimmt und selbstorganisiert kontrollieren: „Wir mussten damals den ersten [ambulanten] Dienst für Deutschland gründen, damit wir überhaupt ausziehen können“. Diese hart erkämpften Möglichkeiten zur Selbstbestimmung werden jedoch immer wieder gesetzlich eingeschränkt und bekämpft, wie z.B. am aktuellen IPREG-Gesetz[2] deutlich wird. Um diese Machtverschiebung wird auch außerhalb von Sonderwelten gerungen. Der Kampf um selbstbestimmtes, selbstkontrolliertes Leben dauert weiterhin an!
Auf die Frage, wie Frevert sich Gedenken und einen Umgang mit den Tötungen in Potsdam vorstellt, antwortet er damit, dass es wichtig sei, das ableistische System zu verstehen. Das sei „der wichtige Punkt, dass man das versteht und deswegen muss man darüber reden, deswegen muss man über Potsdam reden, deswegen muss man über Menschenrechte reden, über die UN-Behindertenrechtskonvention reden, was will die überhaupt und warum brauchen wir ne Machtverschiebung oder was bedeutet die Machtverschiebung im Sinne der Behindertenrechtskonvention?“ Dazu gehört eine Übersetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, die dem Verständnis von strukturellem Ableismus gerecht wird.
Freverts Analyse und Expertise macht eine Perspektive auf Ableismus und die Tötungen behinderter Menschen sichtbar. Ausgehend von einer strukturellen Analyse von Ableismus lassen sich auch andere, ergänzende oder teilweise widersprechende Sichtweisen von behinderten Personen auf den Themenkomplex erkennen. Behinderte Menschen bringen verschiedene Positionierungen, Erfahrungen und Expertisen mit. Daran ließe sich unserer Meinung nach weiter anknüpfen, wie z.B. an der spezifischen Frage, welche Bedeutung Sonderwelten für FLINTA* Personen haben, da Sonderwelten Orte sexualisierter Gewalt sind.
In diesem Sinne, lasst uns an Lucille, Martina, Christian und Andreas erinnern. Lasst uns weiter über Potsdam reden. Lasst uns Erinnern an Individuen mit gesamtgesellschaftlicher Kritik verbinden, dies hilft uns, nicht in Ohnmacht und christliche Riten zu verfallen. Denn es geht darum, anti-ableistische Praktiken, Strukturen sowie Kämpfe zu erstreiten und zu stärken. Darum, an die zahlreichen behinderten Menschen zu erinnern, die aus ableistischen Gründen sterben mussten. Darum, das ableistische System zu brechen.
__________________________________
[1] Wir verwenden das Wort Sonderwelten, um sprachlich die Abtrennung von z.B. Pflegeeinrichtungen oder Werkstätten für behinderte Menschen von sogenannten normalen Welten zu markieren. Damit soll die institutionelle Abschottung von behinderten Menschen benannt werden. Der Begriff betont die Abgeschiedenheit sowie Abgeschobenheit von behinderten Menschen im Wohnen, in der Arbeit und im Alltag.
[2] Das Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (IPREG) wurde 2020 beschlossen und sollte eigentlich das Recht auf ambulante Intensivpflege garantieren. Das Gesetz wird jedoch von verschiedenen Verbänden und Personen kritisiert, wie z.B. von der ISL e.V., die beispielsweise die massiven Leistungskürzungen bemängeln oder die eigene Wahl über den Wohnort in Gefahr sehen.