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Warum wir keine Heimatklänge brauchen

von | veröffentlicht am 27.05 2022

In der DDR zählte der Blues zu den wichtigsten Identifikationsangeboten all derer, die sich als unangepasst verstanden. Statt sich der allerorts in der DDR beschworenen Treue zur „Heimat“ unterzuordnen, stellten sich Musiker*innen dem staatlich verordneten Kulturbetrieb entgegen und fanden ausgerechnet in der aus den USA stammenden und von Schwarzen Menschen erfundenen Musik einen „Sound“ dafür. Doch wie hängen Musik, kulturelle Aneignung und der Umgang mit dem Begriff Heimat, dessen Bedrohlichkeit besonders im Sammelband „Eure Heimat ist unser Albtraum“ aufgedeckt wurde, eigentlich zusammen? Dieser Essay versucht sich an einer Antwort.




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Was ist Heimat, was deren Kultur? Ein bestimmter „Klang der Heimat“, den zu suchen Felix Räuber, ehemals Sänger der mittlerweile aufgelösten Dresdner Band Polarkreis 18, kürzlich ausgezogen war? Die musikalische „Heimattour“ des Radiosenders MDR Sputnik? Gar ein auf hip getrimmter „Heimatsound“, wie im Bayerischen Rundfunk?

Wenn es um die gute alte Heimat geht, wird es oft gefühlsduselig. Da heutzutage die Heimat als Einhegung eines geopolitischen Territoriums historisch diskreditiert ist – und man beeilt sich immer recht schnell darum zu beteuern, die Nazis würden den Heimatbegriff ja nur widerrechtlich benutzen – wird sie nun plötzlich zu einem Gefühl. Ein Gefühl, das einen mit Familie, Freunden und allen „Anwesende[n] und Gegangene[n]“, wie es die Direktorin des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig, Uta Bretscheider formuliert, verbinde und irgendwie alle Menschen durchziehe. Nach einer Umfrage des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig zum Thema „Heimat Ostdeutschland“ hat dies offenbar erstaunlich viel mit Essen zu tun.

In der DDR spielte der Heimatbegriff eine bedeutende Rolle: In der Schule wurde Heimatkunde gelehrt (was bei Nach-Wende-Schulkindern wie mir immer noch Heimat- und Sachunterricht hieß und mittlerweile auch nach Westdeutschland ‚exportiert‘ wurde). Und wer von den Vor-Wende-Schulkindern erinnert sich nicht an das berühmte Lied der Thälmann-Pioniere „Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer“, die „wir“ schützen, „weil sie dem Volke gehört“; eine anscheinend mustergültige Vorlage für den rechtsextremen Verein „EinProzent“, das Lied unter Mitwirkung des Schauspielers Uwe Steimle (Sushi in Suhl) nochmal als Hymne einer völkisch gedachten ostdeutschen Heimat neu aufzulegen. „Heimatsound“ at its best, sponsored by your local Nazigruppe! Dass Heimat alles andere als zufällig zu einem Kampfbegriff der Neuen Rechten geworden ist, haben die Beiträge aus dem Sammelband „Eure Heimat ist unser Albtraum“ von Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah offengelegt: eindrücklich beschreiben die Autor*innen des Bandes die im Begriff „Heimat“ angelegte Sehnsucht der Mehrheitsgesellschaft nach einer „homogenen, christlichen weißen Gesellschaft, in der Männer das Sagen haben“, in deren Namen Rechte Morde begehen und Heimat damit ein „Albtraum vor allem für marginalisierte Gruppen, aber nicht nur“ ist (1). Die Bedrohung, die von diesem Begriff ausgeht, sollte nicht leichtfertig unter Verweis auf Gefühle und liebe Menschen unterschätzt oder kleingeredet werden.

 

Der Wunsch, nicht Heimat zu sein

„Jeder Mensch braucht eine Heimat“ – eine Binsenweisheit. Aber stimmt das tatsächlich? Dutzende Heimatvereine kümmern sich in Sachsen-Anhalt um die Pflege regionaler Kultur. Aber es gibt in der Region eben auch noch mehr als die Heimat, wie etwa das Beispiel des Vereins Sonnenblues e.V. aus Dessau zeigt. Der Verein, der sich die „Pflege, Wahrung und Förderung des Blues und von bluesähnlicher Musik als fester Bestandteil der Kultur“ (2) auf die Fahnen geschrieben hat, weist darauf hin, dass unsere viel gepriesene regionale Kultur eben von anderen „Sounds“ durchzogen ist als von wohligen Heimatgefühlen. Blues war für viele Musiker*innen in der ehemaligen DDR zentral, um dem staatlich gelenkten Heimatkulturbetrieb eine schlagkräftige Antwort entgegenzustellen, die umso prekärer war, als auch der Staat versuchte, sich den Blues zu eigen zu machen, z.B., indem man den Jazzmusiker Louis Armstrong zu einer Tournee einlud. Um es klar zu sagen: Blues war der Klang der „Kunden“ (so die Selbstbezeichnung von Bluesfans in der DDR), die von der Art, welcher Ton in ihrer „Heimat“ angeschlagen wurde, gründlich die Nase voll hatten (3). Dass der Blues aus dem „imperialistischen Ausland“ (den USA) kam, befeuerte vielleicht noch den Wunsch, den Klang der eigenen muffigen Heimat hinter sich zu lassen.

In einem Interview mit Deniz Yücel erinnerte sich der Liedermacher Rainald Grebe an eine Bemerkung des Regisseurs Christoph Schlingensief zu der Frage, was seiner Meinung nach Deutschland sei: „Fracht, die von A nach B transportiert wird“. Analog könnte man zur Heimat eben auch mal fragen, was denn hier für Fracht transportiert wird?

Der Blues war vor allem die Musik der unterdrückten Schwarzen in den USA. Gerade die teilweise hierzulande gepflegte hippieske Art der Aneignung ist mit Blick darauf besonders nervig. Die Musik eines Jimi Hendrix oder Carlos Santana transportierte eine vordergründige Wut über soziale Diskriminierung von PoC. Man muss sich nur Hendrix‘ berühmte Interpretation der amerikanischen Nationalhymne auf dem Woodstock-Festival oder Songs wie „Machine Gun“ anhören, um das zu merken. Diese Musik klang nach Bürgerkrieg und Aufruhr. Viele heutige Bands, wie etwa die wirklich unerträglich gut gelaunten The Magic Mumble Jumble, die bereits mehrmals in Halle gastierten, lassen die ursprüngliche Wut der Stücke in einem weiß getünchten „Alle-fühlen-sich-toll“-Gefühl verschwinden, das dem vermeintlich all-inklusiven „Alle-sind-willkommen“-Heimatgefühl erschreckend ähnlich ist. Plötzlich erscheinen Kämpfe gesellschaftlich marginalisierter oder unterdrückter Gruppen um Anerkennung und Mitbestimmung nur noch als Nestbeschmutzung einer Welt, in der laut The Magic Mumble Jumble „überall auf der Welt jeden Tag die Liebe gewinnt“ (aus dem Song „You are part of everything“). Schon in der Veröffentlichungszeit des Liedes 2017 war das eine wirklich anmaßende Verdrehung der politischen Weltlage (von heute ganz zu schweigen), die man sich nur dann leisten kann, wenn man das Privileg hat, ein Aussteigerleben im kapitalistischen Westen führen zu können. Oder nehmen wir ihre ideologisch verbrämte weiß-privilegierte Eine-Welt-Ideologie während der Corona-Pandemie in ihrem Song „We are one“, wo es über die Pandemie heißt, sie sei „an enemy to everyone“. Dass die Pandemie besonders Menschen mit niedrigem Einkommen trifft, sei’s drum!  Benachteiligung aufgrund von Klasse und race passt eben nicht ins Bild, also weg damit! Die Band trat denn auch passenderweise beim „Heimatsound“-Festival 2015 des Bayerischen Rundfunks auf, dessen Intendant damals CSU-Mann Ulrich Wilhelm war. Hippie sein bedeutet, konservativ zu sein, die sozialen Probleme der Gegenwart gekonnt zu ignorieren. Das allein wäre vielleicht nicht so schlimm, wenn als Transport dieser Fracht von A nach B nicht die Musik der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung herhalten müsste, die zu einem Feelgood-Sound verklärt und damit natürlich auch an die Musikindustrie angepasst wird, die das kulturelle Kapital Schwarzer Musik rücksichtslos ausbeutet. So erscheint die konservativ-neoliberale „Ich-kann-alles-schaffen“-Ideologie plötzlich im progressiven Gewand des Aufruhrs.

„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“, wie eine berühmte Zeile aus dem Anfang des Manifests der Kommunistischen Partei von Marx und Engels heißt. Die Kämpfe, die Schwarze und andere unterdrückte Gruppen ausgefochten haben, hallen im Blues und Soul nach. „Soul Man“ von Sam & Dave etwa ist eine Hymne des militanten Schwarzen Widerstands gegen Rassismus und Polizeigewalt. In der DDR gab es bekanntlich eine äußerst rege Blueser-Szene. Indem die Ostler diese Musik bewusst als künstlerischen Protest gegen das System der DDR spielten, schienen sie sich in gewisser Weise auf die Kämpfe der Schwarzen beziehen zu wollen. Indem sie sich mit diesen Kämpfen ein Stück weit identifizierten, erkannten die Ost-Blueser in gewisser Hinsicht einen emanzipatorischen Charakter dieser Musik, der sich in der DDR eben nicht in einem hippiesken Wir-lieben-uns-alle greifen ließ, sondern eine ambivalente Front eintrug: 1. gegen die Ungerechtigkeit im politischen System der DDR gegen tatsächliche oder vermeintliche politische Dissidenten; 2. gleichzeitig aber als Teil eines Alltags in der DDR, der wiederum selber tief von Rassismus geprägt war, was in den Texten der Blueser außen vor bleibt.

 

Kulturelle Aneignung als Chance?

Der Ost-Blues ist dabei natürlich auch eine Aneignung von Schwarzer Kultur durch Weiße, keine Frage. Doch er hat eine eigene Stimme gegen konkrete politische Repressionen in der DDR artikuliert, die sich etwa darin zeigt, dass die Originaltexte und –haltungen der Schwarzen Musiker nicht einfach kopiert und kommerzialisiert, sondern eigene deutschsprachige Texte und spezifische DDR-Themen verarbeitet wurden. So geschehen z.B. im Stück „Glaubenssachen“ der Band Renft mit dem Thema Kriegsdienstverweigerung. Schwarze Menschen müssen seit Jahrhunderten gegen eine strukturell verankerte rassistische Unterdrückung (4) ankämpfen, die weiße Menschen nicht erleben. Die Musiker*innen in der DDR waren den Einschränkungen eines auf Systemerhalt ausgelegten Kulturbetriebes unterworfen. Wer sich dem widersetzte, konnte in den Knast gehen und/oder abgeschoben werden, wie es bei vielen subversiven Künstler:innen der Fall war. Ich möchte an dieser Stelle weder die jahrhundertelange Unterdrückung Schwarzer Menschen relativieren, noch nahelegen, das Unrecht in der DDR sei damit zu vergleichen. Worum es mir geht, ist die Frage, warum die Ostblueser gerade auf die Idee kamen, sich ausgerechnet den Blues als Ausdruck unangepasster Haltung anzueignen.

Im Lied „Mama Wilson“ von der Band Engerling geht es darum, dass der Protagonist keine Lust hat, mit Weißen Musik zu machen und stattdessen mit Schwarzen Mundharmonika spielt (5). Die weiße Marschmusik muss den „Kunden“ spätestens zu den Militärparaden zum Geburtstag der Republik als der zentrale Klang des staatlich genormten Kulturbetriebs erschienen sein, von dem man sich abheben wollte. Die Schwarzen tauchen auf als ein imaginäres Ideal unangepasster Art des Musizierens und Lebens. Es ging in diesen Liedern nicht um eine fernliegende Utopie abstrakter Gleichheit, sondern um eine Kampfansage an das, was von oben als ein Klang der „Heimat“ zu gelten hatte und hat. Das hatte emanzipatorische Effekte und zeigt, dass eine Absage an den „Heimatsound“ sehr produktiv ist.

Es wird dieser Tage viel, so scheint es, über das Thema kulturelle Aneignung gestritten. Nun ist es so, dass etwa die Musik, die den „Soundtrack“ für die Emanzipation der Schwarzen Bevölkerung darstellte, in eben diesem historischen Kontext der „Geschichte von Klassenkämpfen“ ihren Ursprung nahm. Es wäre daher durchaus eine Aufgabe aller derer, die diese Musik aneignen, ein Echo der kämpferischen „Seele“ dieser Musik in ihrer Bearbeitung spürbar zu machen – etwa wie die Ost-Blueser, die in ihrer Unangepasstheit an das System der DDR sich das aneigneten, was für sie der Klang des Kampfes der Schwarzen gegen Unterdrückung war – anstatt sich einem Feelgood-Liberalismus anzubiedern.

Der Blues ist eine Musik ohne Heimat! Als Musik der als Versklavten aus ihrer Heimat verschleppten Schwarzen besteht seine feste Identität, so könnte man unter Bezug auf den aus Jamaika stammenden Soziologen Stuart Hall sagen, darin, dass er alle Wurzeln verloren hat, die es nach landläufiger Vorstellung von Begriffen wie Heimat und Herkunft brauche, um eine feste Identität zu definieren. Die Erfahrung des Vertrieben- und Fremd-Seins prägt die Schwarze Identität (6). Blues wurde überall auf der Welt rezipiert, etwa durch die von Hall besonders betrachteten Rastafaris. Das hängt auch damit zusammen, dass der Blues niemals in irgendeiner Reinform existierte. Was ist nun mehr Blues? Mississippi-Delta oder Thüringer Provinz? In beiden Fällen taucht der Blues mit einer jeweils eigenen Geschichte auf, die durchblicken lässt, dass eben nicht alle gleich sind. Nicht eine Verwurzelung in einem Heimatgefühl, sondern im Gegenteil: diverse Erfahrungen von Ungleichheit und Unerwünschtheit prägen offenbar die Geschichten von Menschen, die Blues spielen. Und noch mehr: Gerade die Heimatlosigkeit einer Musik oder einer Identität ist anscheinend überall da anschlussfähig, wo das Festklammern an einem duseligen Heimatgefühl die drängenden Fragen der Gegenwart nur mit einem wohlmeinenden Schulterzucken zu beantworten fähig ist. Die Suche nach irgendwelchen heimeligen Heimatsounds führte offenbar weder zu progressiven Ideen noch zu einer mitreißenden musikalischen Untermalung derselben.

 

Müssen wir jetzt alle unsere Blues-Klampfen rausholen?

Wenn man sich die derzeitigen Charts ansieht, dann wimmelt es da unter den ganzen Autotunes und Samples von Musik, die direkt oder indirekt irgendetwas mit dem Blues zu tun hat. Doch welche Effekte hat hier die Aneignung von Kultur? Plötzlich wird der Blues zu einer wohlfühlenden Tanzmusik, zu einem Lebensgefühl in einem politischen Kontext der vermeintlichen Frontenlosigkeit, ein Phänomen, das Leute wie die Soziologin Nancy Fraser oder die Politologin Chantal Mouffe den progressiven Neoliberalismus nannten. Die klassenlose Gesellschaft ist jetzt plötzlich in einem esoterischen „Wir sind alle eins“ auch ohne Revolutionen zu haben. Sozialer Konsens entsteht durch ein alle Menschen durchziehendes Gefühl der Heimat. Doch, was ist mit denen, die da nicht reinpassen; dem „Albtraum vor allem für marginalisierte Gruppen, aber nicht nur“? Die DDR bot ein solches Gemeinschaftsgefühl an: „Unsere Heimat“. Die „Kunden“ und Blueser, die nie erfahren haben und werden, wie es ist, jahrhundertelang gegen Rassismus kämpfen zu müssen, haben sich dort aber nicht wohl gefühlt (im „Klang der Heimat“ kommen übrigens bei Felix Räuber anscheinend auch heute noch keine Schwarzen Musiker*innen zu Wort). Sie wollten von ihrem „Heimatsound“ weg, weil sie für ihre Lebensentwürfe in diesem Konsens keinen Raum erhielten. Und als Weg erschien ihnen hier eben nicht das friedvolle Angepasste an oder ein Kompromiss mit der Heimat, sondern ein Nonkonformismus, der ein Echo der „ursprünglichen“ Militanz dieser Musik hörbar machte.

 

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  1. Fatma Aydemir/Hengameh Yaghoobifarah (Hg.): Eure Heimat ist unser Albtraum. Mit Beiträgen von Sasha Marianna Salzmann, Sharon Dodua Otoo, Max Czollek, Mithu Sanyal, Margarete Stokowski, Olga Grjasnowa, Reyhan Şahin, Deniz Utlu, Simone Dede Ayivi, Enrico Ippolito, Nadia Shehadeh, Vina Yun, Hengameh Yaghoobifarah und Fatma Aydemir, Berlin 2019, S. 9-10.
  2. Sachsen-Anhalt-Journal. Kulturerbe-Netz Sachsen-Anhalt. Sonderausgabe 2021, S. 55.
  3. Michael Rauhut/Thomas Kochan (Hg.): Bye Bye Lübben City. Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR. Schwarzkopf & Schwarzkopf 2018.
  4. Einerseits durch entsprechende Gesetze und Gerichtsurteile, andererseits durch alltägliche Praktiken staatlicher Behörden.
  5. „Und spielte mit den Schwarzen, denn die Weißen war‘ n ihm satt“
  6. Stuart Hall: Kulturelle Identität und Diaspora (in: Ausgewählte Schriften 2: Rassismus und kulturelle Identität, hg. v. Ulrich Mehlem u.a.), Hamburg 1994. S. 31 f.
Hauke Heidenreich

ist Mitglied der Transit-Redaktion, macht leidenschaftlich gern Musik und arbeitet als Historiker am Grünen Band Sachsen-Anhalt.

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