„Gib uns Kohle!“
Eine Performance-Installation am WUK Theater über die DDR-Zwangsarbeit im Bergbau
von Hauke Heidenreich | veröffentlicht am 27.02 2023
Beitragsbild: Thomas Puschmann | WUK Theater Quartier
Die Goitzsche ist das touristische Aushängeschild in Bitterfeld. Doch warum redet neben den Badestränden kaum jemand über die Geschichte des Sees? Das neue Stück „Von Insassen und Insekten“ am WUK Theater Quartier von Alison Shea, Gerda Knoche und Liesbeth Nenoff geht dieser Frage auf den Grund. Eine Inszenierung über den Zusammenhang von Zwangsarbeit, Energieversorgung und DDR-Ideologie, in der das Publikum selbst unter Anleitung die Hauptrolle spielt.
Im Anfang die Natur?
Die Goitzsche ist das touristische Aushängeschild von Bitterfeld. Und sie kam praktisch über Nacht. Beim Hochwasser des Jahres 2002 kam es zu einem Dammbruch an der Mulde und das Wasser des Flusses verrichtete in zwei Tagen das, was eigentlich für mehrere Monate geplant war: Die Flutung des alten Braunkohletagebaus. Sieben Meter höher als geplant stieg der Wasserspiegel, sodass der See sogar überlief und tausende Gebäude beschädigte. Heute ist der See eine Attraktion, es finden Musikfestivals statt, man verbringt Kurzurlaube vor Ort. Doch der See ist nicht durch eine Naturgewalt entstanden, an seinem Ursprung steht eben kein natürliches Ereignis, sondern am Grund seiner Natur steht die Politik. Seine Geschichte ist älter und die heutigen Badestrände rund um den See verdecken diese Geschichte umso effektiver, als diese letztlich auf ein Kapitel verweist, welches von Tourismusakteur*innen in den meisten Fällen zwecks ostalgischer Vermarktungsstrategie eher verschwiegen wird: Die Zwangsarbeit in der DDR.
Ein Besuchszentrum der Diktatur
Das Stück „Von Insassen und Insekten“ hakt genau hier ein. Der Tourismus, immer eilfertig damit beschäftigt, die positiven Seiten des sogenannten ländlichen Raumes – gern mit Sonnenuntergangsvideos – um jeden Preis hervorstechen zu lassen, wird jetzt auf die unangenehmen Seiten des Sees ausgedehnt. Als neueste Touristenattraktion wird nun ein fiktives (?) Besuchszentrum an der Goitzsche eröffnet, das ein Quiz über die politische Vergangenheit des Sees veranstaltet. Das Publikum wird anfangs in zwei Quizgruppen eingeteilt, die von einem Vorhang voneinander getrennt gegeneinander spielen. In Showmastermanier führt Gerda Knoche dauerlächelnd durch das Programm, ermuntert das Publikum zu Höchstleistungen und Teamwork, verbreitet Stimmung. Das derzeit omnipräsente persönliche Erleben von Geschichte wird beschworen. Dabei fällt schnell auf, dass eine der Gruppen weitaus kompliziertere Fragen beantworten muss als die andere. Während die erste Gruppe banale Kenntnisse etwa über den Namen der Stadt Bitterfeld „raten“ muss, wird die zweite Gruppe mit komplexen Detailfragen zum Alltag im Bergbau und zur Zwangsarbeit bombardiert. Natürlich gewinnt die erste Gruppe das Quiz, wird mit Sekt und Leckereien belohnt, die von den Mitgliedern nicht mit der zweiten Gruppe geteilt werden, obwohl diese viele der schwierigen Fragen beantworten konnte.
Die Kohle als Erzieherin
Einer der wichtigsten wirtschaftlichen Einschnitte des Kalten Krieges war die Ölkrise von 1973. Um die westlichen Staaten von einer Unterstützung Israels im Jom-Kippur-Krieg abzuhalten, reduzierte die Organisation der arabischen erdölexportierenden Lände (OAPEC) die Exportmenge von Erdöl. Der Preis für Rohöl schoss sprungartig in die Höhe, die Bundesregierung unter Willy Brandt erließ – heute fast unvorstellbar – ein vorübergehendes Tempolimit für Autos. Die berühmten Bilder leergefegter Autobahnen an den verordneten autofreien Sonntagen sind noch heute präsent. Die Wirtschaft der DDR wurde besonders hart von der Krise getroffen. Der langfristig geplante Strukturwandel der Wirtschaft weg von der Braunkohle und hin zu Erdöl und Erdgas musste abgebrochen werden. Noch Ende der 1970er Jahre machte Braunkohle ca. drei Viertel der Primärenergie aus. Noch bis Ende der 1980er Jahre waren in der DDR Dampfloks ein wichtiges Rückgrat im Güterverkehr, die rudimentären Elektrifizierungsprogramme der Reichsbahn wurden mit Strom aus Braunkohle realisiert.
Nach dem Ende des Quiz oben wird das Kohlelied eingespielt. Kohle war für die Wirtschaft der DDR so wichtig, dass sie zu einer politischen Ideologie gemacht wurde, die bereits der FDJ mit entsprechenden Liedern eingetrichtert wurde. Das Kohlelied verweist einerseits auf den wirtschaftlichen Aspekt, wie zentral die Kohle im Alltag war, den Ofen im Winter zu heißen, um nicht zu frieren. Doch die andere Seite des Liedes verweist auf die ideologische Produktion einer Natur, die dem Menschen freiwillig das gibt, was er zum Überleben braucht. Das lyrische ich bittet die „liebe Erde, gib uns Kohle“ und die Erde antwortet „den Bagger holt her“, dann „friert ihr nicht mehr“
Der Bagger wird von der Natur selber herbeigerufen, um sie zum Wohle der Menschheit auszubeuten. Er ist der „liebe Bagger“, der seine Funktion erfüllt und den Kindern einen warmen Ofen beschert.
Mensch und Natur
Wer fördert die Kohle? Mitten im Stück wird einer der Zuschauenden von Klaus angerufen, einem 19-jährigen jungen Mann, der als Zwangsarbeiter im Bergbau schuften muss. Er habe ein Gedicht geschrieben, das er der Außenwelt mitteilen wolle. Er selbst habe „keine Zeit“ dazu, das Gedicht vorzutragen, daher beauftragt er per Telefon eine Person damit, das Gedicht zu rezitieren, um es einem Publikum zu erhalten. Klaus tritt als Akteur in Erscheinung, der sozusagen von den „lieben Baggern“ verdeckt wird. Die Kohleideologie der DDR behauptet, dass die Beziehung von Mensch und Rohstoff eine natürliche sei, in der der Mensch sich einfach bei der Natur bedienen kann, die ihm freundlich zu Diensten sei. Es offenbart sich hier ein koloniales Verständnis dieser Beziehung, was Eva von Redecker bekanntlich als Phantombesitz bezeichnet hat. Der Mensch schreibt sich selbst Besitzansprüche über die Natur zu, diese nach Belieben auszubeuten. Und die Natur erscheint als Untertan, die gern die Rohstoffe liefert. Sie gebe freiwillig. Das ist die Ideologie, die die Spuren der Ausbeutung verdeckt. Man sieht dabei, dass auch die atheistische DDR nicht von Esoterik frei war: die Erde, die ein eigenes Bewusstsein und eine eigene Stimme hat (Gaia), ist nicht nur Gegenstand japanischer Fantasy-Rollenspiele, sondern vor allem ein Extrakt mitteleuropäischer Philosophien und wurde offenbar auch in der DDR noch verwendet, den materiellen Verhältnissen den passenden esoterischen Überbau zu verschaffen. Um die Bevölkerung zu überzeugen, helfen auch im Betonsozialismus notfalls okkultistische Versatzstücke.
Klaus aber erzählt die Wirklichkeit hinter der Ideologie: die wahre Beziehung Mensch-Rohstoff ist durch die Arbeit strukturiert. Menschen werden zur Arbeit gezwungen, um an den Rohstoff zu kommen und der Zwang ideologisch gerechtfertigt, dass man vor der Mehrheitsbevölkerung einen zentralen wirtschaftlichen und sozialen „Nutzen“ dieser Zwangsarbeit konstruiert und diese zum Konsum der Rohstoffe ermuntert.
Profiteure der Zwangsarbeit
Das Perfide an der Zwangsarbeit ist, dass sie dort eingesetzt wird, wo die gesamte Bevölkerung im Winter Nutznießer ist. Zum Jahreswechsel 1978/79 etwa gab es einen extrem strengen Winter in der DDR. Züge mit Braunkohlelieferungen blieben im Schneechaos stecken, die Energiereserven waren schnell aufgebraucht. Überall im Land musste bei Temperaturen weit unter Null der Strom abgestellt werden. Um dies zu überbrücken, mussten die Bergleute, unterstützt von Volkspolizei und NVA-Angehörigen, Rekordarbeit leisten. Die eingesetzten Zwangsarbeiter wurden mit zur Deckung des Energieverbrauchs des sprichwörtlichen Ottonormalverbrauchers eingesetzt, die dadurch ungewollt zu Kompliz*innen der DDR-Diktatur wurden. Sie profitierten von der Zwangsarbeit, die ihre Öfen heizte.
Es ist in diesem Kontext kein Wunder, dass im Zuge einer Umfrage des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB) zu einem Mahnmal zu Kindergefängnissen immer noch einige „gelernte“ DDR-Bürger*innen zu Protokoll geben, dass die Kinder, die häufig Zwangsarbeit erlebten, „da sicher nicht umsonst hingekommen“ seien. Dass der eigene Ofen im Winter warm bleibt, ist eine gute Bestechung, von den Arbeitsbedingungen derer abzulenken, die die Kohle dafür aus dem Boden holen müssen, die die Erde garantiert nicht so freiwillig hergibt, wie es im Kohlelied heißt. So wird sichergestellt, dass die Bürger*innen ein zentrales, um nicht zu sagen: überlebenswichtiges Interesse am Bestand der DDR-Diktatur haben. In Form der grassierenden Ostalgie wird dieses Interesse sogar noch über den Mauerfall hinaus konserviert, indem die DDR nun als privates Bullerbü erscheint, in dem man eine glückliche Kindheit oder ein annehmbares Bildungssystem erlebt habe. Das Ausblenden der Diktatur zugunsten des privaten, als schön erlebten Alltags ist ein Effekt der Verdrängung des Faktes, dass die Behaglichkeit des Alltags durch Zwangsarbeit erwirtschaftet wurde.
Und ähnlich, wie die Bürger*innen der DDR von der Zwangsarbeit profitierten, profitierte Gruppe Eins von den schweren Fragen an die Gruppe Zwei. Es gab Belohnungen für den Sieg im Quiz, die vergessen machten, dass die Karten im Quiz von vornherein gezinkt waren. Sie verdeckten die Ausbeutungsverhältnisse, die das Quiz selbst errichtet, und wiegen die Menschen, die davon profitieren, in Ruhe. Kontakt zwischen beiden Gruppen kommt innerhalb des Stücks nur durch ein kurzes Telefonat zustande, bei dem nur Banalitäten ausgetauscht werden. Die Banalität des Alltags zur Verwischung der Verhältnisse.
Das Publikum auf der Bühne
Am Ende öffnete sich der Eiserne Vorhang zwischen den beiden Gruppen und die Profiteure von Gruppe Eins sind nun gezwungen, den hart Arbeitenden in die Augen zu sehen. Für beide Seiten war dieser Augenblick sehr irritierend. Das Ende der DDR gibt die Möglichkeit, diese Zusammenhänge ans Licht zu zerren und einmal mehr spielt die Kunst hierbei eine zentrale Rolle. Einmal mehr kann sie die Anweisung um Schweigen hintergehen, die durch die Kompliz*innenschaft der Bevölkerung mit der Zwangsarbeit entstanden ist. Sie kann, wo die DDR-Vergangenheit mit banalen Anekdoten aus dem Alltag verdeckt wird, eine Realität sichtbar machen, die diesem Verdrängen der politischen Verhältnisse widerspricht. Sie kann den Tagebau, die Ausbeutung und das Unrecht aufzeigen, wo heute Badestrände erneut zum Verbringen eines ruhigen Alltags am See aufrufen. Die Rolle ist unangenehm für das Publikum, da ihnen auf künstlerischem Wege die Verstrickung der eigenen Person in die Diktatur vorgeführt wird. Das von Pädagogik und Tourismus ständig gepriesene persönliche Erlebnis von Geschichte, das dem Publikum normalerweise eine gesunde Distanz zum Gegenstand suggeriert, wird durch die Intervention der Kunst zu einem Erlebnis der eigenen Rolle in der Geschichte. Die Kunst muss daher oftmals Ordnungsrufe vonseiten eines bestimmten Publikums über sich ergehen lassen, sich vom Politischen fernzuhalten. Doch letzten Endes durchschaut die Kunst den ideologischen Hintergrund dieser Ordnungsrufe, die nur dazu dienen, die eigene Verstrickung zu verschweigen. Und anstatt das Publikum nur plump zu belehren, integriert das Stück „Von Insassen und Insekten“ das Publikum in die Aufarbeitung und bietet ihm als zentralem Akteur auf der Bühne einen Weg heraus aus dem banalen, versöhnten Alltag hinein in eine andere Welt, in der das Publikum plötzlich selbst als Schauspieler die drängenden, ganz großen Fragen verhandeln muss, wie es Funny van Dannen einmal über die Oper sagte.
Die Art der Aufführung macht es dem Publikum sozusagen unmöglich, sich aus dieser Verstrickung herauszureden. Man kann nicht zurückgelehnt ein Stück verfolgen, das einem das DDR-Unrecht dekonstruiert, sondern man ist dazu angehalten, die subtilen Funktionsweisen der Ideologie kennenzulernen und deren Effekte an sich selbst zu bemerken. Dabei ist das Stück an sich sehr voraussetzungsreich. Viele Zusammenhänge rund um die historischen Ereignisse werden nur am Rande erwähnt. Hier hätte ein einführendes oder nachfolgendes Gespräch das Setting noch weiter abgerundet.
Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.