Geschichten des Klassenkampfes

Ein Bericht über die Lesung zum Buch „Spuren der Arbeit“

von | veröffentlicht am 14.06 2022

Beitragsbild: Dani Luiz | CC BY 2.0

In Kooperation mit der Ortsgruppe Halle der Freien Arbeiter*innen-Union (FAU) organisierte die IWW (Industrial Workers of the World) eine Lesung zum Buch „Spuren der Arbeit. Geschichten von Jobs und Widerstand“ in der Volksbühne am Kaulenberg. In dem Buch erzählen keine professionellen Schriftsteller*innen, sondern Arbeiter*innen über ihre Erfahrungen rund um die Probleme bei der Arbeit und wie sie mit ihnen umgehen. Die Texte sind überwiegend dem Blog Recomposition entnommen, einem Online-Projekt des IWW mit radikalen Arbeiter*innen, und wurden von Organizer*innen aus einer Handvoll Länder verfasst.




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Prekäre Arbeitsverhältnisse sind der immer wieder neue alte Trend im Kapitalismus. Erst unlängst hat auch die Landesregierung in Sachsen-Anhalt erkannt, dass man einiges an Geld sparen kann, wenn man die Lehrer*innen, die aufgrund von finanztechnischen Kahlschlagprogrammen nicht mehr ausgebildet werden können, einfach durch Quereinsteiger*innen ohne fachliche Vorkenntnisse ersetzt – die man dann natürlich auch geringer entlohnen kann. Durch die Coronakrise ist der Druck auf das Lehrpersonal im Land nochmals gewachsen. Der rigide Sparkurs der Landesregierung, unter sklavischer Einhaltung der unsäglichen Schuldenbremse, tut sein Übriges.

Die Situation von Arbeiter*innen im globalen Kapitalismus im Allgemeinen gibt allen Grund zur Besorgnis. Doch was sind die konkreten Themen von Arbeitnehmenden in ihrem beruflichen Alltag und wie organisieren sie sich? Die IWW (Industrial Workers of the World) hat zur Beantwortung dieser Fragen ein Buch herausgegeben, in dem Arbeiter*innen selbst zu Wort kommen und Geschichten ihres Arbeitsalltages und ihrer betrieblichen Organisationsformen berichten. Dieses Buch wurde nun im Rahmen einer Lesetour der breiteren Öffentlichkeit vorgestellt. Im Rahmen der Lesung in der Volksbühne am Kaulenberg wurden verschiedene Geschichten aus dem Buch präsentiert. Die Erfahrungsberichte wurden zudem in den Kontext des globalen Arbeitskampfes einerseits und in die theoretische Arbeit der IWW andererseits eingeordnet. Es konnte dadurch gezeigt werden, dass die Erzählungen der Arbeitnehmenden keine isolierten Erfahrungen, sondern konkret Effekt und Teil eines globalen Kampfes gegen Ausbeutungsverhältnisse sind, die man hören sollte.

 

Erfahrungen als politische Artikulation

Die erste referierte Geschichte wurde von Stefan aufgeschrieben, der von einer erfolgreichen Intervention der Belegschaft an seinem Arbeitsplatz in der Flugzeugfertigung berichtet. Stefan erlebte die Organisation der Kolleg*innen gegen die hohe Schadstoffbelastung in der neuen Fertigungshalle, die seine erste Begegnung mit direkten Aktionsformen gewesen sei, als sehr beeindruckend.

Die zweite Geschichte von J. Rogue macht klar, dass ein 8-Stunden-Tag nicht mit dem Ende der Arbeitszeit vorbei ist und dass die Routinen der Arbeit selbst im Traum noch die Werktätigen im wahrsten Sinne des Wortes beschäftigen; egal, ob man als Kassierer*in oder Callcenter-Angestellte*r arbeitet. Auch Arbeitsplatzwechsel brächten dahingehend keine Entlastung.

Im Anschluss an die ersten beiden Storys stellte eine der lesenden Personen unter Bezug auf die Einleitung des Buches „Spuren der Arbeit“ von Scott Nikolas Nappalos das theoretische Fundament des Projektes vor, Arbeiter*innen zum Aufschreiben ihrer Geschichten zu ermuntern.

Die dominante Kultur betrachte das Erzählen von Geschichten entweder nur als emotionales Werkzeug oder als reine Unterhaltung ohne echten Erkenntnisfortschritt. Dahingegen seien aber Geschichten von Arbeitenden (1) konkrete Hinweise auf die sozialen und ökonomischen Strukturen der kapitalistischen Funktionsweise und (2) eben keine in sich isolierten Ereignisse, die einfach passierten. Erzählen sei im Gegenteil ein bewusster Akt der (Selbst-)Reflexion und (Selbst-)Verortung. Zudem können Erzählungen Ansporn zum Handeln sein. Sie stellten Wissen über Kultur und Kampf zur Verfügung, die zur Veränderung von Menschen führten. Erzählen schaffe neue Gedanken und Handlungsweisen, ermögliche zudem eine produktive Auseinandersetzung mit Begriffen der Linken, die traditionell zur Beschreibung kapitalistischer Strukturen herangezogen würden, anstatt einfach nur objektive Ereignisse zu rekapitulieren. Auf dieser Basis sei die Idee zu dem Blog Recomposition entstanden, der das Vorbild für das aktuelle Buch liefere. Der Blog, als ein Projekt der IWW in den USA und Kanada, sollte unter Bezug auf ein neu entfachtes Interesse an gelebter Realität eine „Klassenneuzusammensetzung“ ermöglichen und aktiv die Beantwortung der Frage „Was ist Klasse?“ im globalen Kontext des 21. Jahrhunderts vorantreiben. Die IWW im deutschsprachigen Raum wollte dieses Projekt nun weiterführen und um neue Geschichten ergänzen.

Die IWW im deutschsprachigen Raum habe zudem 2018 einen eigenen Workshop zum Thema „Erfahrungen als politische Artikulation“ veranstaltet, der als Startpunkt dezidiert Arbeiter*innen empowern sollte, durch ihre Berichte Orte des „Gegenwissens“ einzutragen, die wiederum Grundlage für neue Aktionen sein können. In diesem Zusammenhang seien auch Schreibwerkstätten abgehalten worden.

 

Can the Subaltern speak?

Darauf folgte die Lesung der dritten Geschichte von Phinneas Gage, einem kanadischen Postmitarbeiter, der von den Streikaktionen gegen massive Überstunden und einen vom Management ignorierten bzw. forcierten Personalmangel berichtet. Der Autor schildert besonders das harte Vorgehen der Betriebsleitung gegen einen im Streik engagierten Kollegen mit Frau und zwei Kindern, dem mit Kündigung gedroht wurde, um ihn zum Schweigen zu bringen. Das Hauptmotiv in dem Bericht dreht sich in Folge dessen auch um den schwierigen Drahtseilakt des Anspruchs vieler Gewerkschaften, einen „Interessen-Ausgleich“ mit der Geschäftsführung zu erzielen. Dies sei die „Kardinalsünde der Gewerkschaftsbewegung“, die für die oftmals anzutreffende Handlungsunfähigkeit der betrieblichen Organisation zweifellos mitverantwortlich sei. Doch wie verhält es sich in der berichteten Situation, in der eine Person Angst haben müsse, durch Entlassung die ökonomische Existenzsicherung ihrer Familie aufs Spiel zu setzen? Müsse in diesem Fall nicht auf einen Kompromiss hingearbeitet werden? Vermittlung sei daher eben auch ein Ausdruck eines bestimmten „Gleichgewichts der Kräfte auf der Arbeit und in der Gesellschaft“.

Auf die Geschichte von Phinneas folgte ein weiterer Kommentar zur Notwendigkeit des Geschichte-Schreibens, speziell für Leute auf der Arbeit. Geschichten ermöglichten die Reflexion des eigenen Handelns und der eigenen Position und konservierten v.a. die konkreten Erlebnisse und Geschichten. Arbeiter*innen, die für sich selbst sprechen, hätten darüber hinaus noch eine weitere wichtige Funktion: nämlich die Romantisierung von Streikaktionen, wie sie in Teilen der Linken anzutreffen sei, zu verhindern. Streik sei keine notwendig zum Ziel führende Aktion, sondern eben Teil eines globalen Kampfes, in dem es Rückschläge gebe, die berichtet werden müssen. Nicht aus einer Pflicht gegenüber historischer Korrektheit, sondern, um daraus Lehren zu ziehen. Schreiben stelle in diesem Kontext eine Art der Organisation dar, indem es durch die Verstetigung von Wissen der Arbeitenden eine Gegenmacht zum Kapital eintrage.

Der Bericht von Grace Parker war die vierte vorgetragene Geschichte und dokumentiert eindrücklich Erfahrungen mit sexueller Belästigung an ihrem Arbeitsplatz in einem Spirituosengeschäft. Die Autorin schildert, wie sie an einem früheren Arbeitsplatz gemeinsam mit einer Kollegin gegen sexuelle Belästigung durch einen Manager vorging, der daraufhin aber nur zwei Wochen bezahlten Urlaub bekommen habe. An ihrem jetzigen Arbeitsplatz sei sie bereits zu Beginn darüber aufgeklärt worden, dass sexuelle Belästigung „einfach zum Job gehört“. Hinzu kam, dass die Arbeit an der Kasse und im Lager streng nach Geschlechtern aufgeteilt wurde (Frauen an der Kasse, um den Umsatz zu erhöhen, Männer aufgrund „schwerer Arbeit“ im Lager). In diesem Umfeld habe Grace hohe Solidarität der Kolleginnen erfahren, die ihr beibrachten, damit umzugehen. Sexuelle Belästigung gehöre zum Alltag, ständig wurde die Autorin von Kunden beschimpft oder erniedrigt. Das Problem sei zudem gewesen, dass der (männliche) Manager des Shops sich selber das Urteil vorbehielt, ab wann eine Kassiererin sich unwohl fühlte. Beschwerden seitens Grace seien erst dann beachtet worden, wenn bestimmte Tatbestände vorlagen, die der Manager als solche anerkannte. Zudem durfte Grace nicht selbst entscheiden, ab wann sie einen Kunden nicht mehr bediente.

 

Proletarier*innen aller Länder…

In Bezug auf das Vorwort der deutschsprachigen Ausgabe „Spuren der Arbeit“ wurde noch einmal der Grund betont, warum es auch im Hinblick auf Europa gelte, von Praktiken der Selbstorganisation US-amerikanischer Werktätiger zu lernen. Die USA hätten in Bezug auf die Erfindung von Herrschaftstechniken wie Fließbandarbeit, Prekarisierung, globale Arbeitsteilung, Freihandel und „Union Busting“ eine weltweite Dominanz aufgebaut, die sich durchaus als ein „technologischer Angriff“ verstehen ließe. Kapitalist*innen weltweit lernten v.a. von Herrschaftspraktiken US-amerikanischer Unternehmen die effektive Unterdrückung und Ausbeutung der eigenen Belegschaften: einerseits durch entsprechende Seminare und Literatur, andererseits durch global agierende US-Unternehmen wie Google, Amazon und Facebook/Meta. Gerade die Erfahrungen von Arbeitenden mit diesen Strukturen seien, egal ob von Erfolg oder Misserfolg gekrönt, daher beispielhaft für die Selbstorganisation auch in anderen Ländern.

Die letzte Geschichte aus dem Buch, die präsentiert wurde, stammt von einer der Personen, die den Abend leiteten. Mark Richter berichtete von seinen positiven Erfahrungen kollegialer Solidarität und Aktion im Bereich der Sozialen Arbeit.

In der anschließenden Diskussion wurde erneut darauf hingewiesen, dass Selbstorganisation am Arbeitsplatz nicht zwangsläufig alles zum Guten wenden werde. Erfolge, Misserfolge, aber auch unklare Ergebnisse seien zu erzählen und zu dokumentieren, um die Verhältnisse im Kapitalismus realistisch einschätzen und immer wieder geeignete Gegenmaßnahmen treffen zu können.

Zudem sei die Art der Erzählung entscheidend. Da persönliche Geschichten eben nicht nur einfach vergangene Ereignisse referierten, sondern konkrete Reflexionen darstellten, sei die Darstellung der Berichte ein wichtiger Faktor. Sie sollten spannend sein und darüber hinaus immer wieder das Eingebettetsein der berichtenden Person ins Kollegium oder einen ökonomischen Zusammenhang transportieren. Weiterhin sei die Haltung hinter den Texten ernstzunehmen: welche Art von Gewerkschaftsverständnis oder welche Beziehung zur Lohnarbeit einer Person wird vertreten? Ist die Person zudem eine Facharbeiter*in oder eher eine ungelernte Kraft? All dies seien Fragen, die in Bezug auf das Geschichteerzählen verhandelt werden müssten und eben auch das Berichten beeinflussen.

Als Abschluss der Veranstaltung wurde noch das sehr bewegende Video vom wilden Streik einer Belegschaft einer New Yorker Stardust-Filiale gezeigt.

 

Die Geschichten der Arbeitnehmenden sind keine isolierten persönlichen Erfahrungen, sondern sie verweisen auf einen sozialen und ökonomischen Gesamtzusammenhang, der sich in ihren Erlebnissen widerspiegelt. Ausbeutung ist keine persönliche Sicht, sie hat System. Jede Art von historischem Bericht folgt einem plot (Hayden White) und ist daher eben keine reine Wiedergabe dessen, „wie es wirklich gewesen“ (Leopold v. Ranke). Generationen von Historiker*innen haben darin immer einen gewissen Makel in der Glaubwürdigkeit der Geschichtsschreibung erkannt. Wenn die Geschichtsschreibung nicht objektiv ist, was ist sie dann? Die Berichte in „Spuren der Arbeit“ zeigen aber die produktive und empowernde Kehrseite von Whites Diktum. Dadurch, dass Geschichten nicht einfach erzählen, was war, betten sie sich in einem sozialen und globalen Zusammenhang ein: als Herausforderung überlieferter Erkenntnisweisen dieses Zusammenhangs, als kompetente Akteure in einem ökonomischen Systems, schließlich eben als Einladung zum Weiterdenken und –handeln. Geschichten liefern Ankerpunkte, an denen das oftmals übermächtig erscheinende System konkret herausgefordert werden kann und wurde. Geschichte-Schreiben erscheint nicht mehr als starrer Akt, etwas Vergangenes zu beschreiben, sondern eben als Ort des Infrage-Stellens und damit als Ort, an dem politisches Handeln entsteht.

Hauke Heidenreich

ist Mitglied der Transit-Redaktion und arbeitet als Historiker am Grünen Band Sachsen-Anhalt.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.