Gegen jeden Antirom*njaismus – das solidarische Vakuum

Rom*njafeindlichkeit in Halle und die fehlende Solidarität in der halleschen Linken

von | veröffentlicht am 10.01 2018

Beitragsbild: per.spectre

Rom*njafeindlichkeit hat in Halle Konjunktur, auf der Straße, in der Presse und auf Behörden. Warum das alles doch mit der „Zigeunerfrage“ der Nazis zu tun hat und wie die hallesche Linke sich mit einem Täter*innenkult und Lippenbekenntnissen begnügt, soll in diesem Debattenbeitrag beleuchtet werden.




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Seit November 2016 gibt es in Halle die ersten Stolpersteine für von Nazis ermordete Sint*ezze. Sieben davon wurden vor der ehemaligen Frauenklinik in der Magdeburger Straße eingelassen. Sieben weitere vor einem bereits abgerissenen Haus in der Neumarktstraße. Die einzigen Anhaltspunkte über das Leben der Ermordeten liefern die Täterakten der Nazis. Persönliche Geschichten, die die Lücken zwischen Geburtseintragung und KZ-Einlieferung füllen könnten, scheinen rar. Allein die Tatsache, dass Josef Muscha Müller in einer Gartenanlage versteckt wurde und somit als einziger hallescher Sinto das dritte Reich überlebte, lässt hoffen, dass es ein paar Hallenser*innen gab, die gegen „Zigeuner“-Rhetorik immun waren. Im Rahmen der öffentlichen Verlegung der Stolpersteine ließ Heidi Bohley, Sprecherin des Zeitgeschichten e.V. Halle, verlauten, dass jene Sint*ezze und die Situation, in der sie sich befanden, ja nichts mit den heutigen osteuropäischen Rom*nja und deren Lebenssituation in Deutschland zu tun hätten. Dieser Trugschluss, jedoch, ist der faule Kern des aktuellen Umgangs mit Antirom*njaismus in Deutschland und auch in Halle.

Der erste Nexus zwischen historischer Verfolgung und aktueller Diskriminierung ergibt sich in Halle schon rein sprachlich. Denn wichtige lokale Historiker*innen der Gedenkstätte Roter Ochse, des Zeitgeschichten e.V. und auch der Kirche zeigen eine eiserne Beharrlichkeit den „Zigeuner“-Begriff weiterhin und undifferenziert für verschiedene Gruppen der Rom*nja zu verwenden. So behauptete Heidi Bohley bei besagter Stolpersteinverlegung, dass „Zigeuner“ ebenso wenig ein Schimpfwort sei wie „Jude“, und dass es diese Debatte nur in Deutschland gäbe. Da beide Behauptungen falsch sind, muss sich dieser Artikel zunächst der – leider immer noch nicht überflüssigen – Diskussion über den Umgang mit dem „Zigeuner“-Begriff widmen.

Um die zweite Behauptung zu widerlegen, genügt ein Blick in den Wikipedia-Artikel zum ersten „World Romani Congress“. Bei diesem einigten sich 1971 in London Vertreter*innen aus neun Staaten darauf, diskriminierende Fremdbezeichnungen wie „Gypsy“ oder „Zigeuner“ abzulehnen und den neutralen Begriff „Roma“ – der Romaness-Begriff für (männliche) Menschen – zu verwenden. Der Diskurs um den Sammelbegriff für die verschiedenen Minderheiten war also seit Beginn der Rom*nja-Bürger*innenrechtsbewegung international. Wenn die Begriffs-Debatte, wie behauptet, spezifisch deutsch sein sollte, dann nur dahingehend, dass es in keiner anderen Sprache eine Bezeichnung für die Rom*nja-Minderheiten gibt, die derart mit erbdeterministischen[i] Attributen beladen wurde – und deshalb ist sie vor allem hierzulande zu vermeiden.

Rassenpolitik der Nationalsozialisten

Die erste Behauptung hingegen – dass „Zigeuner“ und „Jude“ einen ähnlichen Diskriminierungsgehalt besäßen – ist insbesondere aus dem Mund einer Historikerin sehr erstaunlich. Denn sie verschleiert die Unterschiede in den Verfolgungs- und Marginalisierungsgeschichten beider Bevölkerungsgruppen sowohl vor, aber vor allem auch nach der NS-Zeit. Tatsächlich knüpft diese Behauptung direkt an NS-Logik an, da eine semantische Annäherung dieser beiden Begriffe nur durch die Nazis stattgefunden hat, die beide Begriffe einer konstruierten, pseudowissenschaftlichen Rassifizierung unterzogen. Erst die Rassenpolitik rückte sie durch eine ähnliche Zuschreibung als „parasitäre“ Gruppen am „deutschen Volkskörper“ in ein gemeinsames Licht. Somit ähnelten sich die Begriffe insbesondere in der Konsequenz für die Betroffenen, nämlich eine rigorose gesellschaftliche Exklusion und ein besiegeltes Schicksal im KZ.

Aber diese tödliche Gemeinsamkeit der beiden Begriffe führte nicht automatisch zu einer gemeinsamen semantischen Rehabilitation nach dem NS-Faschismus. Denn die inhaltliche Neubesetzung der Begriffe ist unmittelbar an die Aufarbeitung der NS-Verbrechen geknüpft. Und dass die Aufarbeitung des Porajmos (des Völkermordes an den deutschen Sint*ezze und europäischen Rom*nja) noch sehr viel beschämender erfolgte, als die Aufarbeitung der Shoa, wird wohl kein*e Historiker*in bestreiten wollen (zum Weiterlesen: pdf). Ein zentrales Beispiel, weshalb der „Zigeuner“-Begriff seinen – im Gegensatz zum Begriff „Jude“ – durchweg diskriminierenden Charakter behalten konnte, ist wohl das Urteil des Bundesgerichtshofes (BGH) von 1956, das die Verfolgung von „Zigeunern“ vor 1943 aufgrund von „Asozialität, Kriminalität und Wandertrieb“ legitimierte und somit die Überlebenden von einer Entschädigung ausschloss. Dieses Bild rückte der BGH erst 2016 bei einem gemeinsamen Symposium mit dem Zentralrat der deutschen Sinti und Roma wieder zurecht. Es gibt zahlreiche weitere solcher Beispiele, die die diskriminierende Bedeutung des „Zigeuner“-Begriffes auch nach dem Krieg weiter zementiert haben[ii] und die in jede Verwendung aus einem Mund der Mehrheitsgesellschaft hineinwirken.

Rassistische Stereotype

Doch auch wer gelernt hat, den Begriff „Zigeuner“ zu meiden und auf das holprige Duo „Sint*ezze und Rom*nja“ zurückzugreifen, hat nicht automatisch gelernt etwas anderes zu meinen. Dass die Kommentarspalten von lokalen Onlineportalen bei einem Artikel über „Roma-Kriminalität“ am Südpark einem Gutachten der Rassenhygienischen Forschungsstelle gleichen, ist wenig überraschend. Wenn aber der SWR im neuerschienenen Kinderfilm „Nellys Abenteuer“ Rom*nja mit ebendiesen kriminalisierenden Archetypen behaftet und der Film trotz lautem Widerspruchs wichtiger Rom*nja-Vertretungen ausgestrahlt wird, dann entlarvt sich, wie erschütternd wenig die deutsche Mehrheitsgesellschaft über die Lebensrealität europäischer Rom*nja weiß, bzw. wie egal ihr die Unwissenheit ist. Auch wenn bei der TV-Debatte um diesen Film Romani Roses Wunsch nach derselben Sensibilität im Umgang mit Antirom*njaismus wie mit Antisemitismus eine fragwürdige Verharmlosung des gegenwärtigen Antisemitismus birgt, rüttelt er damit dennoch an einer immer noch verschlossenen Tür des mehrheitsdeutschen Bewusstseins. Denn in dieses muss endlich einsickern, dass die deutsche Geschichte nicht losgelöst vom aktuell grassierenden Antirom*njaismus und nicht schuldlos an der marginalisierten Situation vieler europäischer Rom*nja ist.


In das mehrheitsdeutsche Bewusstsein muss endlich einsickern, dass die deutsche Geschichte nicht losgelöst vom aktuell grassierenden Antirom*njaismus und nicht schuldlos an der marginalisierten Situation vieler europäischer Rom*nja ist.


Die lebensbedrohliche Diskriminierung heutiger Rom*nja in jenen ost- und südosteuropäischen Staaten, die von Nazis okkupiert waren oder mit ihnen kollaboriert hatten, steht in direkter Kontinuität zur Verfolgung während der NS-Zeit. Die deutsche Geschichte hat rassistische Stereotype manifestiert, die bis heute noch nicht durchbrochen wurden. Kaum eine Rom*nja-Familie, die während des Kosovo-Kriegs oder nach den EU-Osterweiterungen 2004 und 2007 nach Deutschland gezogen ist, um hier Schutz vor ethnischer Verfolgung und Armut zu suchen, hat kein Opfer während der NS-Zeit und fehlende Entschädigungen zu beklagen. Aus diesen Gründen steht jede deutsche Kommune in der Verantwortung, sämtlichen dort wohnenden Rom*nja ein besseres Leben zu ermöglichen, ihre Inklusion zu fördern, ihre Abschiebungen zu verhindern, ihre Traditionen zu pflegen und ihre Teilhabe zu sichern. An genau diese Verantwortung wurde von Seiten betroffener Rom*nja auch schon mehrmals appelliert. Bedeutende Beispiele hierfür sind die Besetzung des ehemaligen KZ Neuengamme 1989 durch die Rom and Cinti Union (RCU) oder die Besetzung des Denkmals für die im Nationalsozialismus getöteten Sint*ezze und Rom*nja 2016.

Verhältnisse in Halle

Wer nun auf die Verhältnisse in der Saalestadt blickt, wird feststellen, dass genau dieser Verantwortung in keiner Weise nachgekommen wird. Das Problem scheint hier vor allem eindimensional zu existieren, nämlich für die Mehrheitshallenser*innen. Vermüllung, Kriminalität, Lärm aus der überfüllten Nachbars-Wohnung, dauergeparkte PKW, Bettler*innen – all das wird vom*von der Mehrheitshallenser*in sofort als „romatypisch“ erkannt und der Redaktion lokaler Onlineportale zugespielt. Die Stadtverwaltung ist sogleich damit beschäftigt, die Ordnungsamt- und Polizeipräsenz im Viertel zu erhöhen und Überwachungskameras aufzuhängen. Die politische Lösung der Stadtteilkonflikte zielt weniger darauf ab, die Rom*nja-Familien in sichere Wohnverhältnisse zu vermitteln, Unterstützung bei der Sozialhilfe oder der Jobsuche anzubieten, Dolmetscher*innen auf Ämtern bereitzustellen, Sozialarbeit in Schulen und den Vierteln zu etablieren, Verwaltungsangestellte für Antirom*njaismus zu sensibilisieren, oder ähnliches. Nein, es geht vor allem darum, die aufgescheuchten Mehrheitshallenser*innen zu besänftigen. Nun soll hier nicht verschwiegen werden, dass die Stadtverwaltung sich durchaus bemüht hat zwei Integrationsprojekte, die auf Integration von Rom*nja abzielen, durch die Caritas und die AWO umzusetzen. Allerdings lahmten die Projekte entweder an verfehlten Konzepten, die die Bedürfnisse der Menschen nicht trafen, oder an viel zu wenigen Personalstellen. Womit diese Integrationsbemühungen allenfalls als symbolische Maßnahmen gewürdigt werden könnten.

Wenn schon die Politik ihre Verantwortung vernachlässigt, was hat eigentlich die hallesche Linke in dem lokalen Konfliktfeld des Antirom*njaismus getrieben? Wirft man zunächst einen Blick auf die antifaschistischen Gruppen, so kondensiert sich deren Solidarität mit Rom*nja auf eine einzige Demonstration im August 2014, deren aufgeblasenes Motto „Schnauze in der Platte“ bereits einen Vorgeschmack auf die sozialchauvinistischen Ergüsse des Aufrufes gab. Die Veranstalter*innen appellierten mit keinem Satz an eine stärkere Solidarität mit den angefeindeten Rom*nja-Familien. Sie versuchten mit keinem Argument die soziale Not, in der sich die Menschen zuvor und aktuell befanden, anzuprangern. Sondern sie begnügten sich damit, aus ihrer innenstädtischen Komfortzone pauschale Tiefschläge gegen sämtliche Alt-Anwohner*innen der Silberhöhe zu verteilen und ihre „Zwangsumsiedlung“ herbeizusehnen. Der Reflex, den tobenden Volksmob martialisch bändigen zu wollen, ohne dabei den vom Rassismus Betroffenen den Rücken zu stärken, prägte den weiteren Umgang der halleschen Antifa mit dem hiesigen Antirom*njaismus.


Die Gesichter der Brigade Halle sind inzwischen wohl dokumentiert und auf lokalen Rechercheseiten mit ausführlichen Infos bespickt, die Rom*nja-Community aber wurde ohne Aufschrei oder solidarische Unterstützung von der Silberhöhe an den Südpark vertrieben.


Die Brigade Halle, jene Bürger*innenwehr, die sich als Reaktion auf die vermeintliche „Romaflut“ in der Silberhöhe gegründet hatte und hässlichste Angriffe auf Rom*nja verübte, wurde augenblicklich zum Fokus antifaschistischer Bemühungen. Nun kann man keiner*m Antifaschist*in einen Vorwurf daraus stricken, wenn sie*er sich um die Bekämpfung von Faschist*innen kümmert. Nur bekommt das leider den faden Beigeschmack von Täter*innenkult, wenn keine praktische Solidarisierung mit den Opfern stattfindet. Die Gesichter der Brigade Halle sind inzwischen wohl dokumentiert und auf lokalen Rechercheseiten mit ausführlichen Infos bespickt, die Rom*nja-Community aber wurde ohne Aufschrei oder solidarische Unterstützung von der Silberhöhe an den Südpark vertrieben. Es ist nicht nur in Halle ein Versäumnis der antifaschistischen Linken, den Bezug zwischen heutigem Antirom*njaismus und NS-Verfolgung herzustellen, die gesellschaftliche Marginalisierung von Rom*nja als deutsche Tradition zu skandalisieren und in die Rom*nja-Community solidarisch hineinzuwirken.

Im Bereich der Antira-Gruppen bis ins bürgerliche Spektrum, gibt es da etwas mehr Opfersolidarität zu verzeichnen. Von Filmvorführungen mit Jana Müller oder Kenan Emini über Vorträge und Diskussionsrunden mit Markus End und Gjulner Sejdi, Kundgebungen und Solidaritätskampagnen des Bündnisses Halle gegen Rechts, bis hin zu Begegnungsfesten in der Silberhöhe und am Südpark gab es Bemühungen auf Rom*nja aufmerksam zu machen und in Kontakt zu treten. Beleuchtet man dieses bunte Soli-Paket jedoch etwas genauer, offenbart sich darin ebenso ein mangelnder Wille zur praktischen Solidarisierung wie die Verdrängung einer deutschen rom*njafeindlichen Tradition. Filmvorführungen und Diskussionsrunden richten sich fast ausschließlich an deutschsprechende, weltoffene Mehrheitshallenser*innen; die Solikampagne des Bündnisses schaffte es offenbar über einen symbolischen Facebook-Post nicht hinaus, Begegnungsfeste begnügen sich meist mit einem Nachmittag inszenierter Wohlfühlatmosphäre, statt gegen diskriminierende Alltagsverhältnisse zu kämpfen, und eine spezifisch deutsche Verantwortung gegenüber osteuropäischen Rom*nja wurde nirgends vernehmbar thematisiert.

Dabei gäbe es viele wichtige Baustellen, an denen die Hände der solidarischen Mehrheitsgesellschaft besser aufgehoben wären. Allen voran die Unterstützung beim Aufbau einer repräsentativen Interessenvertretung. Schließlich ist Sachsen-Anhalt nach wie vor ein weißer Fleck auf der Landkarte der aktiven (!)[iii] Rom*nja-Interessenvertretungen. Rom*nja besitzen in Halle weder eine öffentliche Stimme, noch soziale Aktivist*innen, und deshalb auch keine gesellschaftliche Mitsprache. Sie sind machtlos gegenüber rom*njafeindlichen Politiker*innen, Verwaltungsangestellten und Mehrheitshallenser*innen, und daran haben die solidarischen Lippenbekenntnisse vom linken bis ins bürgerliche Spektrum in den letzten drei Jahren nichts geändert. Es klafft in Halle weiterhin ein solidarisches Vakuum.


[i] Die Theorie des Erbdeterminismus versteht den Menschen in erster Linie als Produkt seines Erbgutes. In dem genannten Zusammenhang bezieht er sich auf die rassistische Pseudowissenschaft der „Tziganologie“, die der Leiter der Rassenhygienischen und Bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle, Robert Ritter, nutzte, um Sint*ezze und Rom*nja eine genetische Minderwertigkeit zu attestieren, die selbst noch „Zigeunermischlinge“ „hochgradig unausgeglichen, charakterlos, unberechenbar [und] unzuverlerässig“ werden ließ.

[ii] Stender, W. (2016). Die Wandlungen des „Antiziganismus“ nach 1945 – Zur Einleitung. In: Stender, W. (Hg.) (2016). Konstellationen des Antiziganismus – Theoretische Grundlagen, empirische Forschung und Vorschläge für die Praxis.

[iii] Der Verein Romano Drom aus Magdeburg ist offenbar nicht mehr aktiv.

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Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.