Freie Geister | auf der Venus

Zwei Romane für linke Utopist*innen

von | veröffentlicht am 19.04 2019

Beitragsbild: Foto: Transit | Werk: Fritz Eisel

Romane, die sich explizit mit linken Utopien auseinandersetzen und dabei auch noch ins Detail gehen, sind relativ selten. Ursula K. Le Guins Klassiker “The Dispossessed” und Dietmar Daths relativ neuer Roman “Venus siegt” erfüllen beide Kriterien. Zwei Leseempfehlungen.




diesen Beitrag teilen

Science-Fiction-Literatur ist hochpolitisch. Jeder Blick nach vorne erfordert, über die weitere Entwicklung aktueller gesellschaftlicher und politischer Systeme oder über deren Zustand in einer mehr oder weniger fernen Zukunft zu spekulieren. Wie vordergründig das Politische dabei ausfällt, ist äußerst unterschiedlich. Ebenso, wie sehr es überhaupt an die bisherige menschliche Geschichte anknüpft, die Ökonomie einbezieht oder sie gänzlich außen vor lässt.

Im Science-Fiction-Programmbereich „Tor“ der S. Fischer Verlage finden sich aktuell zwei Romane, die politischer kaum sein könnten, da sie eine wiederholt totgesagte politische Ideologie, den Sozialismus, zu skizzieren versuchen. Einen Klassiker: Ursula K. Le Guins 1974 in den USA erschienener Roman “Freie Geister” (Originaltitel: “The Dispossessed”; ältere Titel deutscher Übersetzungen: “Planet der Habenichtse”, “Die Enteigneten”) in der brandaktuellen Neuübersetzung von Karen Nölle. Und einen Roman mit dem Zeug zum Klassiker: Dietmar Daths 2015 erschienenes Buch “Venus siegt” in der bereits 2016 um 150 Seiten erweiterten Neuausgabe.

Freie Geister

Anarres, der Ort der Haupthandlung in Le Guins “Freie Geister”, ist wahrlich ein “Planet der Habenichtse”, wenngleich diese Konnotation nur im Vergleich zum Nachbarplaneten Urras mit seinem extrem kapitalistischen Wirtschaftssystem sinnvoll erscheint. Diesen haben die Bewohner*innen von Anarres nach der odonischen Revolution, benannt nach der revolutionären Prophetin Odo, verlassen, um auf dem kargen, als Mond von Urras geltenden Gestirn eine neue Gesellschaft zu errichten – ohne Eigentum, ohne Herrschaft, Kooperation vor Individualität. Eine Anarchie in der eigentlichen Wortbedeutung, also nicht im anomischen, gesetzlos-chaotischen Sinne, der heute fälschlicherweise oft mit dem Wort Anarchie verbunden wird.


“Erwarten Sie von den Studenten, dass sie keine Anarchisten sind? Was können junge Leute sonst sein? Wenn man unten ist, muss man von der Basis aus nach oben organisieren!” Shevek auf Urras gegenüber den Administratoren der Universität


Protagonist der Handlung ist der Physiker Shevek. Als erster Anarrese plant er die Rückkehr nach Urras, um seine innovativen wissenschaftlichen Erkenntnisse mit den dortigen Wissenschaftlern zu teilen – die weibliche Form erübrigt sich hier, da (bürgerliche) Frauen auf Urras keiner Arbeit nachgehen (dürfen). Der Handlungslauf des Buches wechselt zwischen Episoden aus Sheveks Leben vor der Reise nach Urras und seinen Erfahrungen in der für ihn neuen alten Welt. Da sind Sheveks Kindheit im sogenannten Schlafhaus; die Auseinandersetzungen am Forschungsinstitut mit seinem missgünstigen Mentor; seine Arbeitseinsätze; seine Familie; die Gründung eines revolutionären Syndikats. Und eigentlich müsste hier auf Possessivpronomen verzichtet werden, denn diese wurden aus der eigens geschaffenen neuen Sprache auf Anarres getilgt.

Cover: S. Fischer Verlage

Denn auf Anarres besitzt niemand etwas und das Leben erscheint beim Lesen eher beschwerlich; körperliche Arbeit gehört auch für Wissenschaftler*innen (sic!) zum entbehrungsreichen Alltag. Auf Urras hingegen erlebt Shevek eine schier unvorstellbare Vielfalt an Luxusgütern, die ihn gleichzeitig anzuziehen und abzustoßen scheint. Während er anfangs nur mit der besitzenden Oberschicht Kontakt haben darf, gelingt es ihm nach und nach hinter die Fassaden zu blicken und mit Hilfe seines persönlichen Kammerdieners Kontakt zum revolutionären Teil der urrasischen Arbeiterklasse aufzunehmen. Schließlich entzündet er sogar die erste große Revolution seit der odonischen, die seine Vorfahren über hundert Jahre zuvor nach Anarres geführt hatte.


“Was uns zusammenführt, ist unser Leiden. … Wir wissen, dass es für uns keine Hilfe gibt, wenn wir einander nicht helfen, dass keiner uns rettet wenn wir nicht auch selbst anderen die Hand reichen. Und die Hand, die ihr reicht, ist leer, wie meine auch.” Shevek in einer Rede auf Urras vor versammelten Aufständischen.


Venus siegt

Auch Dietmar Daths Hauptfigur ist ein Mann, Niklas Helander, Sohn eines führenden Mitgliedes der Regierungskaste des von den Menschen besiedelten Planeten Venus. Und auch Daths Romanhandlung entwickelt sich entlang der Lebensgeschichte des Protagonisten: der Verlust der Mutter in jungen Jahren durch ein Bombardement im venusischen Befreiungskrieg, die Lehrjahre bei einem gemäßigten hochrangigen Politiker, die Auseinandersetzungen mit seinem skrupellosen, regimetreuen Vater, seine erste prägende Liebe zur Tochter der venusischen Führerin Leona “Lilly” Christensen, die in Terrorismus und Genozid mündenden politischen Konflikte und schließlich der vernichtende Krieg mit einer faschistoiden Erde.

Das Leben auf der Venus erscheint auf einem kulturell sehr hohen Niveau und der technische Stand, den Dath beschreibt, ist im Bereich des Fantastischen anzusiedeln, wie es beispielsweise in Sergej Snegows kommunistischer Weltraum-Saga “Menschen wie Götter” noch extremer zu finden ist: über dem Boden schwebende Städte, eine vollständige Vernetzung aller Menschen über ein geheimnisvolles flüssiges Material, autonome intelligente Roboter und sich frei im Netz entwickelnde künstliche Intelligenzen – ein Gesellschaftssystem dreier Intelligenzen: Diskrete (= Roboter), Biologische (= Menschen) und Kontinuierliche (= freie, servergestützte Programme mit Bewusstsein), kurz D=B=K.

Während die Handlung des ursprünglichen Buches quasi die Memoiren von Niklas Helander, eine Art Chronist seiner (konter-)revolutionären Zeit, darstellt, spielt der neue, weit über einhundert Seiten umfassende Schluss lange nach dessen Tod. Nach dem vernichtenden interplanetaren Krieg sind Venus, Erde und alle übrigen menschlichen Siedlungsgebiete im Sonnensystem Teil eines von künstlichen Intelligenzen (quasi Freihandelsverträgen mit Bewusstsein) und einem menschlichen Triumvirat kontrollierten Hyperkapitalismus, der jegliche freiheitliche Bestrebungen brutal unterdrückt. Doch ein Teil der revolutionären Ideen von der Venus hat überlebt und erwacht wieder zum Leben.

Cover: S. Fischer Verlage

Revolutionäre Gesellschaftssysteme

Was Le Guin und Dath da in ihren Erzählungen aufspannen, sind nicht weniger als revolutionäre Gesellschaftssysteme, bei Le Guin entstanden aus einem Exodus nach einer Revolte, bei Dath aus einem Bürgerkrieg heraus, einem Befreiungskrieg von denjenigen, die die Venus ursprünglich verwertbar gemacht hatten, den sogenannten “Verweltern”. Beide Systeme erinnern stark an sozialistische Ideale, Anarres deutlich näher am Ideal als die in der bisherigen irdischen realsozialistisch-autoritären Tradition stehende Venus.


“Niemand besitzt etwas, das man stehlen müsste. … Und was Gewalt betrifft, nun, … würden Sie mich unter normalen Umständen ermorden wollen? Und wenn Sie es wollten, würde ein Gesetz, das es verbietet, sie davon abhalten? Zwang ist das am wenigsten wirksame Mittel zur Durchsetzung von Ordnung.” Shevek auf Urras gegenüber einem Wissenschaftskollegen auf die Frage danach, was auf Anarres für Ordnung sorge.


Detailreich, wie es nur selten in Science-Fiction-Literatur zu lesen ist, beschreiben Le Guin und Dath das gesellschaftliche Leben ihrer Helden ebenso wie ihre ambivalenten Gedanken gegenüber dem politisch-gesellschaftlichen System. Le Guin greift dabei deutlich weniger als Dath auf technische Innovationen zurück, ja, Anarres und Urras muten aus heutiger Sicht auf vielerlei Art wie Welten aus unserer eigenen Vergangenheit an, was sicherlich auch auf den zeitlichen Kontext von “Freie Geister” zurückzuführen ist, aber wohl mehr noch darauf, dass die Autorin weniger als Dath darauf baut, dass eine Gesellschaft, die auf der Gleichheit aller fußt, am besten mit massiver technologischer Innovation durchzusetzen ist.

Dath schöpft technisch hingegen aus dem Vollen, und zwar so fantastisch, dass es beim Lesen schwerfällt, hinter all den beschriebenen Wunderdingen herzukommen, eigene Bilder davon im Kopf zu entwickeln. Eine deutlich größere Herausforderung für die eigene Vorstellungskraft als Le Guins Postverkehr via Raumschiff. Am spannendsten fällt Daths Weiterentwicklung des Internets aus: Alle Menschen auf der Venus sind via neuronalem Interface miteinander vernetzt. Eine aus heutiger Sicht noch unvorstellbare Bandbreite und Datenfülle bei Verarbeitungsmöglichkeiten, die echtes Multitasking erlauben. Und darüber scheint auch ein Großteil der gesellschaftlichen Steuerung und Meinungsbildung stattzufinden.

Doch so fantastisch der technische Fortschritt scheint, so weit bleibt das politische System hinter seinen sozialistischen Ansprüchen zurück. Es mutet stellenweise geradezu stalinistisch an (und das ist sicherlich auch Absicht), wenngleich es deutlich mehr Freiheiten zu gewähren scheint und eine Frau die Führung innehat – und auch deren nahezu gottgleich verehrte und früh verstorbene Vorgängerin war eine Frau. Es ist ein Ringen zwischen revolutionären Ideen und Idealen und konterrevolutionären Sachzwanglogiken, die auch nicht vor Folter und Säuberungen bis in die Führungselite Halt machen, das bis zum massenvernichtenden Krieg mit der Erde anhalten soll, dem eine lange kapitalistische Phase folgt, in der lediglich die venusischen Ideen und Ideale überleben sollen.


“Wir haben zugelassen, dass aus Kooperation Gehorsam wurde. … Hier herrscht die Mehrheit. Aber eine Herrschaft, eine Regierung ist auch das!” Ein Freund Sheveks auf Anarres in einem Streitgespräch über das Leben auf dem Planeten.


Die Frage der Herrschaft

Dem nahezu totalitären Herrschaftssystem bei Dath steht ein nahezu herrschaftsfreies bei Le Guin gegenüber. Man könnte es nicht einmal demokratischen Sozialismus nennen, denn es gibt keine gewählte Regierung, keinen Parlamentarismus, keine politische Repräsentanz und auch kein Rätesystem. Jedem Menschen auf Anarres steht es prinzipiell frei zu tun oder zu lassen, was er oder sie will. Ja, sogar einfach nichts zu tun, also nicht zu arbeiten, trotzdem das (Über-)Leben auf Anarres vor allem von der Kooperation aller abhängt, insbesondere in klimatischen Krisenzeiten. Was dann aber doch subtil Herrschaft ausübt, und hier zeigt Le Guin eine bestechende Ehrlichkeit im Umgang mit dem Ideal, sind eng ausgelegte moralische Glaubenssätze, die mitunter wissenschaftliche Fortschritte oder ein Fortschreiten der revolutionären Gesellschaft – und eben auch das Nichtstun – unterdrücken, sowie informelle Machtmechanismen, die insbesondere konservativ und eigennützig eingestellte Menschen wie Sheveks wissenschaftlichen Mentor bevorteilen.

Doch wer sich auf Anarres solchen Formen der Herrschaft widersetzt, dem drohen wie auf Daths Venus keine (geheim-)polizeiliche Verfolgung, Internierung, Tod, sondern höchstens die Androhung von Prügel durch einzelne Ultraorthodoxe, die Versetzung auf unliebsame Arbeitsstellen in abgelegenen Gegenden und Niederlagen in den entscheidenden Diskussionsforen. Und wer auf Anarres geistig nicht stabil genug ist, diese Unterwerfung des Individuellen unter das Kollektiv auszuhalten, der kann dadurch psychisch auch Schaden nehmen. Alles in allem scheinen die Geister auf Anarres dennoch vergleichsweise frei von Unterdrückung zu sein. Ein Leben, in das auch der auf Anarres zur progressiven Minderheit gehörende Shevek nach seinen Erfahrungen mit Kapitalismus, Polizeigewalt und Stellvertreterkrieg auf Urras nur allzu gerne zurückkehrt.


“Da der Mythos des Staates nicht mehr im Weg stand, trat das wahre Wechselverhältnis zwischen der Gesellschaft und dem Individuum deutlich zutage… Die odonische Gesellschaft war als permanente Revolution gemacht, und jede Revolution beginnt mit einem denkenden Geist.” Sheveks Gedanken in einer durchwachten Nacht.


Weder Dath noch Le Guin liefern mit ihren Beschreibungen Blaupausen für gesellschaftliche Utopien. In beiden Geschichten sind die Revolutionen mit der Befreiung aus der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise und aus den Händen der früheren Unterdrücker längst nicht abgeschlossen. Die neuen Gesellschaften zeigen sich voller sozialer und ökonomischer Spannungen und Konflikte. Und damit geben die Bücher wichtige Denkanstöße. Bei Le Guin sind es die Beziehungsweisen (vgl. dazu bei Interesse: Bini Adamczak, “Beziehungsweise Revolution”, 2017, edition suhrkamp), die im Mittelpunkt stehen und an deren sozialismustauglicher Transformation bislang jedes revolutionäre Geschehen unserer Welt gescheitert ist. Bei Dath ist es die Frage danach, wie sozialistische Ideale immer wieder an der Realität, an wirtschaftlichen Zwängen und menschlichen Egoismen zerschellen – und wie sie dennoch überdauern und die Hoffnung aufrechterhalten, dass eines Tages noch ein herrschafts- und gewaltfreies Gesellschaftssystem gleicher Menschen entsteht.


  • Ursula K. Le Guin: “Freie Geister”. Erschienen bei FISCHER Tor, Frankfurt/Main, 2017, 424 Seiten. Aus dem US-Amerikanischen von Karen Nölle. (Zitate in Reihenfolge des Artikels: S. 142, S. 330, S. 166-167, S. 186, S. 366)
  • Dietmar Dath: “Venus siegt”. Überarbeitete und um eine 150 Seiten lange Fortsetzung erweiterte Neuausgabe. Erschienen bei FISCHER Tor, Frankfurt/Main, 2016, 538 Seiten.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.