Erinnerung als politische Kunst?
Ein Theaterstück zum Gedenken an Delfin Guerra & Raúl Garcia Paret
von Hauke Heidenreich | veröffentlicht am 18.08 2022
Beitragsbild: Initiative 12. August
Am 12. August wurde erneut des Todes von Delfin Guerra & Raúl Garcia Paret gedacht. Im Rahmen der Gedenkveranstaltung auf der Merseburger Kliaplatte wurde ein Theaterstück des freien Ensembles p&s gezeigt, das sich kritisch mit der Aufarbeitung rassistischer Gewalt in der DDR auseinandersetzte.
Am 12. August 2022 hatte die Initiative 12. August erneut zu einer Gedenkveranstaltung nach Merseburg eingeladen. Gedacht wurde wie auch schon die Jahre zuvor der kubanischen Vertragsarbeiter Delfin Guerra und Raúl Garcia Paret, die am 12. August 1979 von einem Mob von über 30 Deutschen durch die Stadt und schließlich in die Saale gejagt wurden, wo sie mit Gegenständen beworfen wurden und ertranken. Bereits am Vortag hatte es rassistische Ausschreitungen gegen Kubaner*innen gegeben. Diese hatten daraufhin beschlossen, nicht länger davonzulaufen, und überlegten sich eine Gegenaktion, mit der sie sich wehren wollten und die sich nach den Recherchen der Initiative 12. August und des Historikers Harry Waibel wie folgt abspielte:
„Am Sonntag, den 12. August 1979, kam es am frühen Abend in der Gaststätte „Saaletal“, in deren Saal sich zu diesem Zeitpunkt etwa 230 Deutsche aufhielten, zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, als sechs bis zehn Kubaner in den Saal stürmten und mit Ledergürteln, Holzstöcken und Kabelenden auf die Anwesenden einschlugen. Unmittelbar danach flüchteten die Kubaner aus dem Gebäude, vor dem etwa 30 weitere Kubaner standen, die die heraus stürmenden Deutschen mit „faustgroßen Steinen“ bewarfen. Daraufhin bewarfen die „Veranstaltungsgäste“ die Kubaner mit „Weinflaschen“ und die Kubaner flüchteten in Richtung Saalebrücke, um von dort das Zentrum von Merseburg zu erreichen. Sieben oder acht Kubaner flüchteten entlang des Flussufers, verfolgt von etwa 30 bis 40 Deutschen. Da ihnen von Deutschen, die auf der Brücke standen, dieser Weg versperrt wurde, sprangen sie in die Saale. Mehrere Deutsche die auf der Brücke und am Ufer standen, bewarfen schwimmende Kubaner mit „Weinflaschen“ und „Ziegelsteinen“. Eine am Ufer stehende Deutsche sagte bei ihrer Vernehmung bei der DVP aus, dass sie eine leere Flasche auf einen schwimmenden Kubaner geworfen und den Kopf eines Flüchtlings getroffen hätte. Ihrer Meinung nach habe der Treffer bei dem Kubaner „Wirkung“ gezeigt: Er „geriet zeitweilig unter Wasser“. Als die Volkspolizei eintraf, war das Pogrom bereits beendet.“
Die Umstände des Todes von Delfin und Raúl wurden nie aufgearbeitet, teilweisen brüsten Zeitzeug*innen sich in den sozialen Netzwerken bis heute damit, Teil des Mobs gewesen zu sein. Die Realität des Rassismus im „real existierenden Sozialismus“ ist ein nach wie vor drängendes Thema, das die Behauptung der DDR-Obrigkeit, die Mauer sei angeblich ein „antifaschistischer Schutzwall“ gewesen, doppelt ad absurdum führt.
Deutsche Gedächtnispolitik kritisieren
Den ersten Teil der diesjährigen zweiteiligen Gedenkveranstaltung hatte die Initiative in Zusammenarbeit mit dem freien Ensemble p&s organisiert, das mit seiner Produktion „Revolution der Stille“ die Vorgänge um den Tod der beiden Vertragsarbeiter in einer äußerst gelungenen Musik-Theater-Performance künstlerisch verarbeitete. Die Schauspielerin Nicole Tröger sowie die Musiker Martin Laun, Niklas Stelbrink und Tomy Suil stellten dabei vor allem die politische Situation der nicht geschehenen Aufarbeitung in den Vordergrund. Kritisiert wird in dem Stück unter anderem das an sich richtige Argument eines gesamtdeutschen Rassismusproblems, das in diesem Fall die spezifischen Taten von Rassist*innen im Osten relativieren und im wahrsten Sinne des Wortes „unter den Teppich kehren“ würde. In einer politisch-satirischen Ansprache lobte Nicole Tröger im Rahmen der Performance die Qualitäten eines roten Teppichs, der, einmal ausgerollt, die sozialen Missstände wie eben rassistische Übergriffe bequem unter sich begräbt und jederzeit gereinigt werden kann; eine treffende Wiedergabe deutscher Gedächtnispolitik besonders seit 1990, in der migrantisierte Perspektiven nur noch als erfolgreiche Stützen des Integrationsparadigmas eines glücklich wiedervereinten Deutschland auftauchen dürfen.
So war denn der berühmte Schmutz, der unter den Teppich gekehrt wird, ein wiederkehrendes Motiv des Theaterstücks. Von Zeit zu Zeit drängt dieser Schmutz in Form mikroskopisch kleiner Staubmilben an die Oberfläche, so dass er nicht mehr ganz versteckt werden kann und die politische Agenda der Vertuschung stört, sozusagen allergische Schocks auslöst. Doch dann wird der politische Staubsauger herausgeholt („nichts ist befriedigender, als Flächen mit dem Staubsauger abzusaugen“), der Schmutz abgetragen und in den Müll entsorgt. Dieses Vorgehen ist in diesem Zusammenhang aber letztlich nichts anderes als ein nach wie vor lebendig gehaltener Teil des Umgangs der DDR mit Rassismus in der heutigen Zeit: was nicht sein kann, das nicht sein darf. Nachdrücklich setzte das Ensemble in Szene, dass man den real existierenden Sozialismus der DDR als das anzuerkennen und zu benennen habe, was er gewesen sei: eine Diktatur, in der der Rassismus ohne Einschränkung durch staatliche Organe Opfer forderte. Unter dem Deckmantel einer angeblich lupenrein bewältigten NS-Vergangenheit, in der es keine Nazis mehr gebe, deckten Stasi und Volkspolizei rassistische Verbrechen und verhinderten die Aufarbeitung und strafrechtliche Verfolgung. Nach der Wende wurde dieses Verständnis mit der seit den rassistischen Angriffen in Lichtenhagen und Hoyerswerda beliebten Rhetorik eines angeblichen „Ausländerproblems“ modifiziert weitergetragen.
Die von den drei Musikern des Ensembles vorgetragenen Lieder (gesungen von Tomy Suil) thematisierten denn auch die Sprachlosigkeit der Opfer und ihrer Angehörigen in Deutschland. Deutsche Behörden und Verantwortliche, sonst in der Welt ob ihrer sprichwörtlichen Gründlichkeit berühmt und berüchtigt, sind gerade in diesen Fällen stets darauf bedacht, die Deutschen in Schutz zu nehmen, wenn es um Rassismus geht, während gleichzeitig eine effektive Aufarbeitung der Vorfälle verschleppt wird. Auch weisen die Texte der Lieder eindringlich auf die Heuchelei hin, mit der Vertragsarbeiter*innen nach Deutschland geholt wurden, um hierzulande das Wirtschaftswachstum zu stärken und dafür Ausbeutung und rassistische Verfolgung ertragen zu müssen: „Goldene Straßen / Fremdschweiß / Hier verurteile ich, dass sein [Deutschlands; Anm. d. Autors] Reichtum von außerhalb kommt nicht vom eigenen Tisch“.
Die unversöhnliche Kunst
Der Regisseur Jean-Luc Godard sagte einmal, „es geht nicht darum, politische Filme, sondern politisch Filme zu machen“. Das kann auf die Kunst im Allgemeinen übertragen werden. Das betrifft hier vor allem die Frage, inwieweit Kunst politische Vorgänge anstoßen kann, ohne, dass sie aufhört, Kunst zu sein (politisch Kunst machen) und zur reinen Parteipolitik (politische Kunst machen) wird. Politische Kunst setzt auf Aussagen, die in einer zwingenden Eindeutigkeit daherkommen und ein politisches Geschehen ins richtige Licht setzen wollen. Sie setzt auf Knalleffekte, sie reduziert letztlich politische Gemengelagen auf Klischees, Plattitüden und Vorurteile, die sich gesellschaftlicher Akzeptanz versichern und auf griffige Bilder verweisen. Und somit wird auch der Gegenstand, der behandelt wird, zur Plattitüde und zum Klischee.
Die Vorgänge am 12. August 1979 sind aber nicht einfach. Der genaue Tathergang bleibt weiter im Dunkeln, deutsche Zeug*innen der Taten werden nicht juristisch belangt, das Gedenken an die Opfer muss gegen starke politische Hindernisse durchgesetzt werden.
Ist also die Aufgabe der Kunst vielleicht eine andere? Michel Foucault sprach zur Verdeutlichung, wie Widerstand und politisches Denken in einer komplexen Gesellschaft aussehen kann, davon, dass es nicht um eine Verweigerungshaltung per se gehe, sondern um eine „Kunst der freiwilligen Unknechtschaft“. Sie versteht eine politische Verweigerungshaltung nicht in einer starren Festlegung auf eine bestimmte Identität, sondern in einem sich Entziehen der geltenden Normen, einem Anspruch, „nicht auf diese Weise regiert zu werden“. Die Grenzen der derzeitigen politischen Realität aufzuzeigen, ist deswegen eine Kunst, weil über die derzeit gebotene Form politischen Agierens hinausgegangen werden muss und man sich sprichwörtlich auf unsicherstem Terrain befindet. Hier gibt es keine politischen Pläne mehr, bestimmte politische Handlungen müssen erst erprobt werden. Gerade dieses künstlerische Erproben wird von der derzeit herrschenden politischen Macht misstrauisch beäugt, eben weil es im Gegensatz zum sturen Verweigern unberechenbarer ist. Ein Prozess, den die Staatsanwaltschaft in Halle für abgeschlossen erklärt hat, soll wieder angestoßen werden. Indem die künstlerische Darstellung diese Forderung nach politischer und moralischer Gerechtigkeit auf die Bühne bringt (in diesem Falle auf die Kliaplatte in Merseburg) und ihr so einen öffentlichen Raum gibt, widerspricht sie der politischen Macht in ihrem Begehren nach Einfachheit, Versöhnung und Bewältigung.
Politisch Kunst zu inszenieren kann bedeuten, die Versuche der machtvollen Unterdrückung komplexer Geschichten sichtbar zu machen, zu zeigen, wo und wie was unter den Teppich gekehrt wird, wie das Stück des Ensembles p&s eindrücklich veranschaulichte. Kunst muss die Zwischenräume zeigen und gleichzeitig die Erzählung der politischen Macht herausfordern, die sich nur allzu gern auf einfache Erklärungsmuster beruft und andere Vorgänge ausschweigt. Kunst kann, wie es denn auch das Thema des Stücks ist, das Schweigen brechen, die Anweisung zum Schweigen hintergehen und aus der Stille eine Geschichte herausschälen. Das Politische in der Kunst liegt also nicht in ihrer Parteinahme, sondern im Gegenteil in der Möglichkeit, vorschnelle Parteinahmen zu hinterfragen, das Komplexe und die bisher unbeachteten Facetten ans Licht zu zerren und zum Sprechen zu bringen: zu zeigen, dass politische Arbeit und die Forderung nach Gerechtigkeit nicht durch einen politischen Akt der Vergangenheitspolitik unterbunden und zum Schweigen gebracht werden kann.
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