DOK Leipzig 2017: Ein Erlebnisbericht und viereckige Augen
Teil 1 direkt vom Festival: Kommunismusretrospektive und aktuelles Zeitgeschehen
Unser Redakteuer Tamer Le Gruyere besucht das DOK Festival in Leipzig. In seinem Festivaltagebuch schreibt er über Filmhighlights und kleine Beobachtungen.
10.21 Uhr
Das Plakat der diesjährigen Retrospektive „Kommandanten – Vorsitzende – Generalsekretäre“ kommt mit großen Gesten. Marx ist zitiert: „Geschichte passiert immer zweimal, einmal als Tragödie, einmal als Farce.“
10.25 Uhr
Ein letzter kurzer Blick in das Programm bevor es losgeht. Mein Interesse gilt neben der Retrospektive vor allem den Filmen, die sich mit dem gesellschaftlichen Rechtsruck beschäftigen. Pegida ist in den Programmen angekommen, während es meines Erachtens weniger Filme über Krieg als in den Jahren zuvor gibt. Zudem steht im deutschen Dokumentarfilm, statt Flucht an sich, jetzt die Integration der Geflüchteten zur Debatte.
10:30 Uhr
Erster Film. Und der verbindet dann halt doch Krieg, Flucht und Integration miteinander. „Schildkrötenpanzer“ läuft im internationalen Wettbewerb für Kurzfilme und verfolgt drei Personen, deren Leben sich in einer Münchner Auffangstation für Reptilien kreuzen. Hauptperson ist Kinda, die aus Syrien geflohen ist und ihre Schildkröte mitgenommen hat. Im Gegensatz zu ihrem Mann überlebte das Tier einen Luftangriff auf ihr Haus und ist nun quasi ihr letztes Familienmitglied. Das Problem: Wo andere Menschen ein Gehege für ihr Haustier haben, hat der Europäer einen Ausweis. Genauer: Die Europäische Artenschutz-Verordnung verlangt, dass Schildkröten registriert werden. Kinda kann keine Dokumente für die extrem seltene Art vorweisen und gilt fortan als Schmugglerin.
Der zweite Film – „When the bull cried“ – läuft ebenfalls im internationalen Wettbewerb, allerdings für Langfilme. Es geht um eine kaputte Dorfgemeinschaft in den bolivianischen Anden. Fast alle im Dorf verdienen ihr Geld mit dem Abbau von Mineralien. Die Arbeit der Männer in den Minen fasst eine Protagonistin zusammen: „They go in alive and come out dead in the evening.“ Zwei junge Brüder haben beide Elternteile verloren. Weil es Glück bringen soll, betrinken sich die Minenarbeiter. Viele sind gewalttätig, was insbesondere die Frauen und Kinder ausbaden müssen. Der bildgewaltige Film endet mit surrealen Aufnahmen von der rituellen Tötung eines Stieres, dessen noch schlagendes Herz auf einem Scheiterhaufen verbrannt wird, während sich alle Teilnehmenden maßlos besaufen. Dieser Film bekommt meine wärmste Empfehlung.
12:45 Uhr
Den 100. Jahrestag der Oktoberrevolution – Kurator Ralph Eue spricht sogar von „100 Jahre Kommunismus“ – begeht das Festival, welches immerhin auch schon sein 60. Jubiläum feiert, mit einer thematischen Retrospektive. Unter dem Namen „Kommandanten – Vorsitzende – Generäle“ soll weniger auf das Ereignis der Oktoberrevolution selbst sondern mehr auf die Aktualisierungen geschaut werden, die der Kommunismus sowjetischer Prägung im Laufe der Jahre erhalten hat. Eue weist schließlich auf die Förderung durch die Stiftung Aufarbeitung hin, was nichts Gutes erahnen lässt. Wenn ich bürgerliche Belehrungen haben will, dann lese ich „Die Zeit“. Natürlich ist es möglich, durch eine entsprechende Rahmung auch Originalmaterial jeglichen progressiven Gehalt abzusprechen und jegliche Ambivalenzen einzudampfen. Doch so einfach ist das hier nicht, stellt sich im Laufe der nächsten Stunden heraus.
13:15 Uhr
Fröhliches Glockenspiel untermalt Bilder von der Sprengung der Potsdamer Garnisonkirche – diesem „preußischen Walhalla“ – im Film „Von eurem Geiste“ über Karl Liebknecht. Das gibt Sympathiepunkte.
15:30 Uhr
Ansonsten gefällt mir „How ideology moved our collective bodies“ bisher am besten. Dieser Film behandelt den Versuch einen gesellschaftlichen Körper im sozialistischen Jugoslawien zu formen sowie die Rolle, die Massenperformances im Rahmen des jährlich stattfindenden Jugendfestivals dabei spielten. Die Performances inszenierten eine Ideologie, die im Laufe der Jahre immer ausgehöhlter wurde. Das wird kritisiert und gewürdigt. Denn trotz aller Probleme aktivierte die Ideologie des sozialistischen Jugoslawiens nach dem Zweiten Weltkrieg etliche Menschen, eine bessere Gesellschaft aufzubauen. Der schleichende Zerfall des Staates lässt sich anhand des Wandels der Massenperformances nachvollziehen. Diese unterschieden sich von Jahr zu Jahr. Nach Titos Tod wurden sie immer individualistischer. Im Jahr 1987 steht nur noch ein einziger Körper – statt des „collective body“ – im Mittelpunkt: Eine Tänzerin, die ein professionelles Modern-Dance-Stück aufführt, während die Show um sie herum um einiges düsterer wirkt als in den Jahrzehnten zuvor. Die Regisseurin spricht davon, dass die Ideologie des Kollektivismus sich zur Ideologie des Individualismus gewandelt habe: „In one moment the socialist choreography collapsed. In the next step, people started to believe they are independent and free. In the next step they burned each other.“ Die furchtbaren Entwicklungen, die die Menschen in Jugoslawien noch durchmachen mussten, sind im Film nur angedeutet. Die Regisseurin stellt schließlich klar, dass “How ideology moved our collective bodies“ nicht durch Nostalgie motiviert ist, sondern eine junge Generation an die eigene Geschichte erinnern soll. Folgerichtig endet der Film mit einer Widmung für die antifaschistischen und kommunistischen Großväter sowie für die Neue Linke, die zurzeit in Belgrad entsteht.
19:00 Uhr
Wahrscheinlich habe ich schon viereckige Augen, aber ein Film muss noch sein: Die neuen Kinder von Golzow. Frei nach der bekannten dokumentarischen Langzeitstudie und gefördert von MDR und SWR. Begleitet wird eine syrische Familie beim Versuch, sich in das brandenburgische Dorf Golzow zu integrieren. Der Film ist also auch Symbol für aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen. Das ist sehr unterhaltsam, denn die Kinder sind witzig und die Familie insgesamt schwer sympathisch. Leider wirkt der Film, als seien Ecken und Kanten abgeschliffen worden. Konflikte im Dorf werden nur in kurzen Szenen angedeutet, aber kaum ausgereizt. Bedrohlich wirken die dunklen Aufnahmen einer Versammlung, die anlässlich des zu erwartenden Zuzugs weiterer Flüchtlinge abgehalten wird. Große Einigkeit herrscht darüber, dass zuziehende junge Männer ausschließlich ein Problem seien. Jedoch erfährt man weder, was aus dem „Problem“ geworden ist, noch ob es nicht auch andere Sichtweisen gibt. Der Film ist zu konfliktscheu.
Das Ehepaar Barbara und Winfried Junge, die Schöpfer/innen der alten Golzow-Filme sind ebenfalls anwesend und hellauf begeistert. Winfried Junge empört sich darüber, dass der Film nicht für einen Preis nominiert ist. Er habe unter den tatsächlichen Nominierungen bei diesem Festival dagegen noch keinen guten Film gesehen.
02:33 Uhr
Auf einer Filmpremierenparty und mit angetrunkenen Filmschaffenden geredet. Beobachtet, wie Anspannung sich langsam löst und in Freude überwechselt. Außerdem mit einer der Anwesenden Gäste über „Die neuen Kinder von Golzow“ gesprochen. Meine Gesprächspartnerin erzählt mir, dass der MDR nicht nur Auftragsarbeiten inhaltlich sehr rabiat mitbestimmt, sondern auch geförderte Projekte. Zuschauer/innen würde nicht mehr viel zugemutet, Ecken und Kanten schonmal gar nicht. Insofern sind die hässlichen Seiten von Golzow vielleicht nicht das, was vermeintlich Quote bringt.