DOK Leipzig 2018 – Tagebuch vom Festival

Teil 3: Exit - Der zum Film geronnene Extremismus-Diskurs

von | veröffentlicht am 02.11 2018

Beitragsbild: Transit

Die 61. Ausgabe des DOK Leipzig Festivals findet in diesem Jahr unter dem Motto „Demand the Impossible“ statt. Über 300 Dokumentarfilme sind in sieben Tagen zu sehen. Unser Redakteur Tamer Le Gruyere hat daraus eine Auswahl getroffen und berichtet von seinen persönlichen Eindrücken während der Woche. In der dritten und letzten Ausgabe des Tagebuchs vom Festival geht es um den Film „Exit“. Eine Spoilerwarnung ist hiermit ausgesprochen.




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Was haben Ex-Neonazi Ingo Hasselbach und Ex-Islamist David Vallat gemeinsam? Sie treffen die scharfsinnigsten Aussagen in „Exit“, einem ansonsten größtenteils vergessenswerten Film über Aussteiger. Nein, nicht nur über Aussteiger aus der Neonazi-Szene so wie der Ankündigungstext angibt, sondern auch über solche die anderen „gewaltvollen Extremismen“ anhingen.

Zu Beginn des Films gibt es noch eine interessante Beobachtung, wenn man über den fragwürdigen Sucht-Vergleich hinweg sieht. Die Filmemacherin Karen Winther hat im Alter von 12 Jahren den Film zu „Christiane F.“ gesehen. Das hat sie nicht vor Drogen und düsteren Clubs abgeschreckt, sondern ihr eine völlig neue und interessante Welt gezeigt.

Das Phänomen der Ästhetisierung sozialer Probleme wird am deutlichsten sichtbar, wenn sogenannte Aussteiger vor Schulklassen gesetzt werden um dort ihre Geschichten zu erzählen. Denn Geschichten bekommen Schüler_innen dann auch zu hören: Über Außenseitergefühle in Kindheit und Jugend, Freundschaft und Zusammenhalt in der Naziszene, Parties und Konzerte und eine plötzliche Entfremdung davon. Klingt unpolitisch? Könnte in jeder Jugend, ob politisch oder nicht, so ablaufen? Da liegt das Problem. Unterschiede und Besonderheiten werden undeutlich und im schlimmsten Fall wird die rechte Szene erst durch die Abenteuerstories interessant.

Ein Film wie Exit muss sich also an seinem Eingangsstatement messen lassen. Das Ergebnis ist leider erwartbar. Man bekommt Geschichten über Gewalt, Konzerte, schlimme Kindheitserfahrungen, plötzliches Umdenken weil nicht-weiße Personen sich überraschend hilfsbereit zeigen. Karen Winther erzählt, dass gesellschaftliches Außenseitertum sie anzog. So kam sie erst zur linken Szene. Als aber jemand sagte, dass die Neonazis ein Haufen Loser seien, dachte das frühere Mobbingopfer Winther, dass sie vielleicht genau dorthin gehöre.


Als jemand sagte, dass die Neonazis ein Haufen Loser seien, dachte das frühere Mobbingopfer Winther, dass sie vielleicht genau dorthin gehöre.


Viel Gewalt, wenig Ideologie
Ideologie spielt in diesem Film kaum eine Rolle. Winther ist auf der Suche nach etwas Dunklem das sie in sich trägt und trifft sich mit anderen Menschen, die politische Szenen verlassen haben. Die Rede ist meist von „Violent Extremism“. Eine Frau aus den USA sagt klar: „Ich war nie tief in der Ideologie. Ich hab einfach alle gehasst. Irgendwann glaubte ich das was sie (die Neonazis) mir erzählten.“ Sie mag das so sehen, aber Winther ist überhaupt nicht in der Lage sie mit den Widersprüchlichkeiten dieser Aussage zu konfrontieren. Angebracht wäre hier die Frage danach, warum sie sich dann ausgerechnet die Nazis statt eine andere Gruppe ausgesucht hat. Oder Fragen danach, welche Werte sie wichtig fand und welche ihrer Meinung nach die wichtigsten gesellschaftlichen Themen waren, bevor sie zu den Nazis kam.


Die Filmemacherin möchte ihre eigene Zerrissenheit mit anderen teilen. Das ist verständlich, doch es trägt nicht zum Verständnis des Themas bei.


Die Filmemacherin will das Thema nicht politisch, sondern persönlich bearbeiten. Deshalb ist sie auf der Suche nach Menschen mit einem ähnlichen Schicksal. Sie möchte ihre eigene Zerrissenheit mit anderen teilen. Das ist verständlich, doch es trägt nicht zum Verständnis des Themas bei. Nie geht es um die Gesellschaften in denen ihre Protagonist_innen aufgewachsen sind. Es geht nicht um Alltagsrassismus oder um all die Gewissheiten über Minderheiten die in der Mehrheit kursieren und völlig unhinterfragt bleiben.

Deshalb hat Winter auch einen ehemaligen „Linksextremisten“ und einen ehemaligen Islamisten in ihren Film integriert. Der Fokus der Gespräche, die sie mit ihnen – einem Lehrer aus Kopenhagen und David Vallat, einem ehemaligen Mitglied der Armed Islamic Group – führt, liegt auf der Gewalt. Es ist deutlich, dass sie hier das verbindende Element ausmacht. Vallat sagt jedoch auch, dass man nicht am selben Tag zum Humanisten werde, an dem man beschließt auszusteigen. Den Bruch mit der Ideologie zu vollziehen dauere sehr lange. Es hätte sich gelohnt, diesen Gedanken weiter zu verfolgen. Vielleicht glaubt Winther aber auch, dass die Feststellung nur für Islamisten gelte.


Man wird nicht am selben Tag zum Humanisten, an dem man beschließt auszusteigen. Den Bruch mit der Ideologie zu vollziehen dauert sehr lange. Es hätte sich gelohnt, diesen Gedanken weiter zu verfolgen.


An anderer Stelle taucht eine Freundin auf, die als „Teil der radikalen linken Szene“ eingeführt wird und Winther zu Beginn ihres Ausstiegs half, unterzutauchen. Die Freundin beschreibt die Hilfe als einen Akt ihrer politischen Haltung. Wo der Unterschied zum ex-linksextremen Lehrer liegen könnte, spielt leider keine Rolle.

 

Nazis „einfach reden lassen“?

Schließlich ist es Ingo Hasselbach, der im Gegensatz zu seinen Auftritten in manch anderen Filmen hier nicht die Rolle des ex-rechten Märchenonkels spielt, sondern überraschend trocken berichtet, dass man sich sein Leben lang mit dem Nazithema beschäftigen muss. Eine kleine Geschichte, die sich alle die zum Thema arbeiten hinter die Ohren schreiben könnten, hat er dann aber doch noch parat. Als der Filmemacher Winfried Bonengel zu Beginn der 90er Jahre einen Film über Hasselbach drehte, konfrontierte er diesen immer direkt mit den Widersprüchen der extrem rechten Ideologie. Bonengel tat dies im Gegensatz zu all den anderen Menschen, die damals Reportagen und Artikel über die Nazis anfertigten, denn „die haben uns einfach immer reden lassen“, so Hasselbach. Letztlich wurde das der Anfang vom Ausstieg für den ehemaligen Führungskader. All die Heises, Michels und Ben-Yakovs könnten da mal drüber nachdenken.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.