DOK Leipzig 2018 – Tagebuch vom Festival
Teil 1: Familie und Vergangenheit
Die 61. Ausgabe des DOK Leipzig Festivals findet in diesem Jahr unter dem Motto „Demand the Impossible“ statt. Über 300 Dokumentarfilme sind in sieben Tagen zu sehen. Unser Redakteur Tamer Le Gruyere hat daraus eine Auswahl getroffen und berichtet von seinen persönlichen Eindrücken während der Woche. Am Dienstag hat er sich Filme angeschaut, die sich mit Familienschicksalen und deren Verquickung mit zeithistorischen Ereignissen beschäftigen. Eine Spoilerwarnung ist hiermit ausgesprochen.
10.05 Uhr Werbung??
Der erste Vorhang öffnet sich. Kurze Irritation als eine Teilauto-Werbung auf der Leinwand zu sehen ist. Es folgen Spots für den MDR und 3Sat. Bin ich aus Versehen im falschen Kino gelandet? Kommen jetzt phantastische Tierwesen? Die Moderatorin klärt auf, dass es nun erstmalig in der Geschichte des DOK auch Werbung gibt. Sei aber alles kein Problem, schließlich ist der MDR ein guter Partner. Der DOK-Trailer untermauert diese Haltung mit der Botschaft „Positive Disturbance“. Ich bin mir nicht sicher, aber solange sie nicht während der Filme Werbung schalten, werde ich mich nicht beschweren.
10.09 Uhr Familiäre Abgründe bei „Doppelgänger“ und „Der Funktionär“
Es folgt eine Doublefeature mit dem Thema „Väter“.
Der Vater von Michaela Taschek starb am 13. Juni 2014 an einem Herzinfarkt. Doch eigentlich sei er „schon vor 24 Jahren gegangen“. Taschek versucht dies in ihrem Film „Doppelgänger“ anhand von Fotos und Super-8 Aufnahmen aufzuarbeiten. Dass der Vater eine Depression hatte wurde ihr erst später klar. So wie das Wort im Film nicht auftaucht, ist das Thema auch in der Familie ein Tabu. Die Tochter fragt sich, was der Auslöser war. Der Tod eines Freundes? Vielleicht sogar sie selbst weil sie als Kind so unerträglich gewesen sei?
Dass Taschek als Erzählerin auf englisch und meist in leicht ironischer Art redet, tut dem Film nicht gut. Auch so manche Scherze hätten nicht sein müssen. In der Q&A erfahren wir jedoch, dass es ihr anders nicht möglich war, über die Vergangenheit zu sprechen. Das habe sie schließlich nicht in ihrer Familie gelernt, in der man zwar räumlich eng miteinander lebte, sich aber trotzdem fremd war, ohne diesen Widerspruch zu reflektieren. Deutsch sei als Sprache zu nah dran gewesen, und „zu präzise“. Die Filmemacherin ist persönlich so authentisch, wie sie als Erzählerin versucht, Distanz zwischen sich und dem Gezeigten herzustellen. Keine Frage, hier hat jemand ganz tief in den eigenen Familienabgründen gewühlt. Das Ergebnis ist mutig und sympathisch.
Die Ausgangslage des nächsten Films ist eine ähnliche, aber der Rahmen ein anderer. Andreas Goldstein, Sohn des DDR-Kulturministers und Staatssministers für Kirchenfragen Klaus Gysi, hat einen Film über seinen Vater gedreht. „Der Funktionär“ läuft im Deutschen Wettbewerb und immerhin haben wir es hier mit einer Weltpremiere zu tun.
Der Film schafft es sehr gut, das ambivalente Verhalten Gysis darzustellen und dabei gleichzeitig immer wieder Parallelen zur Ambivalenz des DDR-Staates zu ziehen. Goldstein sagt hinterher, es ginge ihm darum zu zeigen, dass die Leute in der DDR versucht haben etwas Gutes aufzubauen und sich dann selber in den Widersprüchen verstrickten. Als Urszene, die der Vater immer wieder zur Legitimation heranzog dient dabei das Bild eines toten Arbeiters auf dem Straßenpflaster. Dieser wurde in den 20er Jahren von der Polizei bei einer Demonstration erschossen. Gysi, der die Szenen des Tathergangs als Kind mit ansah, sagte sich damals – so seine Erzählung -, dass alles besser sei als das hier erlebte.
Dass Anspruch und Wirklichkeit dabei oft auseinander klafften, kann man rückblickend feststellen. Mit der Erfahrung im Bewusstsein, dass gesellschaftlicher Rückschritt eine erstzunehmende Bedrohung ist und tote Arbeiter auf dem Straßenpflaster kein Hirngespinst, sind haben die Funktionäre versucht, das Bestmögliche zu erreichen. Ganz wichtig dazu Goldsteins Feststellung, dass der Aufbau des Sozialismus als Erziehungsaufgabe statt als konfliktreicher Prozess der Auseinandersetzung verstanden wurde. Das bringt die Verhärtung des politischen Systems der DDR so gut auf den Punkt, wie es in einem Satz überhaupt möglich ist.
Das Publikum äußert ignorante Kommentare, verpackt als ignorante Fragen. Einer sagt, der Film enttarne den Vater als Lügner, die andere spricht von einer Abrechnung, die nächste zieht gar Parallelen zu Pegida und behauptet, so wie „das, was derzeit im Osten passiert“ sei der Film sei ein Beweis dafür, dass Menschen anfangen sich mit der DDR-Vergangenheit zu beschäftigen und diese aufzuarbeiten, so wie man im Westen die NS-Vergangenheit aufgearbeitet habe.
Goldstein, wahrlich kein guter Redner, aber ein Mann der in der Lage ist, widersprüchliche Gedanken zuzulassen und mitzuteilen, reagiert auf sympathische Weise. Was derzeit in den Neuen Bundesländern passiert, habe nicht soviel mit der DDR zu tun, sondern mit dem schiefgelaufenen Vereinigungsprozess. Wenn Leute etwas erdulden müssen, dann geben sie es an den Nächstschwächeren weiter. Das habe nichts mit unbewältigten DDR-Traumata zu tun und sein Film habe damit ebenfalls nichts zu tun. Er habe auch keine Abrechnung vorgenommen, sondern einen politischen Film über die Widersprüchlichkeit des Versuchs DDR.
Das Doublefeature Doppelgänger/ Der Funktionär läuft nochmal am Mittwoch und Samstag. Empfehlung ist hiermit ausgesprochen.
12.34 Uhr Retrospektive Ruth Beckermann – Die papierne Brücke
Die Zeit reicht nichtmal, um das Q&A bis zum Ende zu verfolgen. Der Zeitplan, wiedermal zu tight. Ich gehe zu den Passage-Kinos um die Retrospektive mit der österreichischen Filmemacherin Ruth Beckermann zu sehen. Beckermanns Themen sind jüdisches Leben, Flucht, Migration, Antisemitismus und Postnazismus. Ihr Film „Die papierne Brücke“ untersucht die Reste jüdischen Lebens in der Stadt Czernowitz in Rumänien, in Jugoslawien und Wien. Auch sie lässt ihren Vater zu Wort kommen, ebenso wie ihre Mutter. Gedreht hat sie Mitte der 80er Jahre als die Themen Mittäterschaft und Antisemitismus in der österreichischen Gesellschaft ein Tabu waren. Entsprechend offen und hart kommt der Antisemitismus auf die Leinwand: Während einer Demonstration gegen den österreichischen Präsidenten Kurt Waldheim, der als Nazitäter enttarnt wurde, pöbeln gutbürgerliche Waldheim-Fans aufs Übelste die Demonstranten an. Beckermann, die heute ebenfalls vor Ort für ein Q&A ist, kündigt schonmal an, dass die Aufnahmen von der Demo eigentlich nur ein Teaser für ihren neuen Film „Waldheims Walzer“ ist, der ebenfalls auf dem Festival läuft.
16.38 Uhr: Chris the Swiss – Ein Sog aus Idealismus, Faszination und Gewalt
Filmstress. Eine kurze Kaffeepause später sitze ich im Kino Astoria. Der Saal ist gut gefüllt, denn der Anima-Dokfilm Chris the Swiss hat schon im Vorfeld einige Aufmerksamkeit bekommen. Die Regisseurin Anja Kofmel hat einen Film über ihren Cousin Christian Würtenberg gemacht. Der Journalist reiste 1991 in das Bürgerkriegsgebiet Jugoslawien, genauer in die Teilrepublik Kroatien und kehrte als toter Körper zurück.
Kofmel stellt sich die Frage, „wieso ein junger Schweizer aus einem friedlichen Land in einen fremden Krieg zieht und dort ermordet wird“. Dazu arrangiert sie in einem flotten Tempo Original-Material vom Krieg, Interviewszenen, aktuelle Bilder ihrer Suchbewegung sowie animierte Sequenzen. Letztere ragen gegenüber den anderen Formaten heraus. Kofmel verwendet die animierten Szenen um Lücken zwischen den quellengestützten Überlieferungen zu schließen. Details, die sich ihrer Kenntnis entziehen, ergänzt sie durch ihre Phantasie. Oft driften die Szenen ins surrealistische ab, wenn die Regisseurin von ihren Träumen erzählt oder wenn Gewalthandlungen durch dunkle Schatten symbolisiert werden. Hin und wieder wird jedoch leider auch die Grenze zu schlechten Actionfilmen überschritten. Chris liefert sich dann uninspirierte Dialoge mit seinen Reporterkollegen oder macht auf betrunkenen Revolverheld und zerschießt nach einem Diskobesuch Glasflaschen auf der Strasse.
Kolleg_innen des Journalisten äußern in Interviews, dass Chris einerseits bestürzt war vom sinnlosen Töten im jugoslawischen Bürgerkrieg. Trotzdem kommt immer wieder zum Vorschein, dass Chris auch fasziniert war von Krieg, Gewalt, Terror und Waffen. Als Siebzehnjähriger reiste er nach Südafrika um dort in der Armee gegen das Ende der Apartheid zu kämpfen und auch in Kroatien wird er schließlich Teil einer Söldnertruppe, der Prvi internationalni vod (PIV) – „ein Haufen rechtsextremer Krimineller“, wie die Kriegsreporterin Heidi Rinke im Interview sagt. Gleichzeitig arbeitet er weiterhin als Reporter und will ein Buch über seine Erlebnisse schreiben. Chris ist der Überzeugung, aufgedeckt zu haben, dass der PIV von der ultrakatholischen Laienorganisation Opus Dei gesteuert und finanziert wird. Bevor er damit an die Öffentlichkeit gehen kann, wird er ermordet – wie der Film nahelegt im Auftrag des Anführers der PIV, den er zu Beginn seines Aufenthalts noch als Journalisten kennengelernt hat.
Der Film möchte nicht eindeutig Stellung beziehen: Chris ist kein selbstloser Kämpfer für die Wahrheit, aber auch kein gewaltgeiler Abenteurer, der einen Vorwand braucht um ein bisschen rumballern zu können. Mal tendiert er in die eine, mal in die andere Richtung. Es sind hier gerade die surrealen Animationssequenzen, die die Ambivalenz zwischen beiden Polen darstellen ohne eine Erklärung vorzugeben. Chris wird selbst von den dunklen Schatten erfasst, die die Gefahr symbolisieren. Es handelt sich dabei nicht nur um Kugeln und Granaten, die die Menschen im Krieg ganz physisch bedrohen. Die Schatten stehen für die Gefahr, immer tiefer in einen Sog aus Idealismus, Faszination und Gewalt hineinzugeraten. Dass sich all dies nicht widersprechen muss und rückblickend auch nicht restlos aufgeklärt werden kann, zeigt sich in der Figur des Reporters Christian Würtenberg hervorragend.
Ihre Ausgangsfrage kann Kofmel also letztlich nicht beantworten. Schade ist, dass nur ihre Crew, aber nicht sie für ein Q&A vor Ort ist. So bleibt offen, ob sie mit diesem Ergebnis zufrieden ist.