„Wegwerfmenschen“ in der Fleischindustrie

Bericht zur Präsentation des Buches „Ist das System Tönnies passé?“ am 7. Oktober in Weißenfels

von | veröffentlicht am 13.10 2022

Beitragsbild: Diana Harnisch | CC BY 2.0

Am 7. Oktober 2022, dem Welttag für menschenwürdige Arbeit, fand in Weißenfels auf Einladung der Kreisgruppe Burgenlandkreis des Bundes Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND) eine Präsentation des neuen Buches über das System Tönnies statt, um über die unterirdischen Arbeitsbedingungen in diesem Unternehmen zu informieren.




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„Barockstadt Weißenfels – Europas größte Schlachtfabrik“; so ist es auf der Homepage der Bürgerinitiative Pro Weißenfels zu lesen. Seit Anfang der 90er ist das Unternehmen Tönnies, bekannt als einer der Big Player in der massenhaften Produktion von Schweinefleisch, in Weißenfels ansässig. Bereits vor der Wende existierte in Weißenfels ein Schlachthof, der ca. 80-100 Tiere pro Tag schlachtete und noch vor der Wiedervereinigung auf EU-Niveau modernisiert werden sollte. Nach der Wende konnte Bernd Tönnies den Schlachthof über die Treuhand zu einem Spottpreis erwerben, die Schlachtzahl wurde innerhalb kürzester Zeit auf 20‘000 Tiere pro Woche erhöht. Seitdem ist die Zahl der Schlachtungen weiter gesteigert worden. Vor Corona wurden in Weißenfels pro Tag ca. 20‘000 Tiere geschlachtet und zerlegt. 2008 ist durch das Landesverwaltungsamt Sachsen-Anhalt die letzte Erweiterung der Schlachtkapazität genehmigt  worden; wobei weitere Baulichkeiten teilweise auch nach 2008 noch genehmigt und errichtet wurden. Im Gespräch mit der Transit-Redaktion erklärte die Geografin Nicole Reppin, Sprecherin der mittlerweile inaktiven Bürgerinitiative, dass der Schlachtbetrieb bei Vollauslastung pro Tag etwa 4 Mio. Liter Wasser benötige. Gleichzeitig dienten die immensen Schlachtzahlen fast ausschließlich der Überproduktion von Fleisch, das in andere Länder exportiert werde. Die Einwohner*innen der Stadt Weißenfels konnten sich erst 2008 im Zuge der beantragten 20.000 Schweineschlachtungen pro Tag am Genehmigungsverfahren beteiligen. Weiterhin bestehe für das Areal bis heute kein per Satzung beschlossener und damit rechtskräftiger Bebauungsplan. Die Arbeit der Bürgerinitiative sei schwierig, da es nur unter großem Aufwand möglich sei, rechtlich gegen die behördlich erteilten Bescheide vorzugehen.

 

Der Kampf gegen das Fleisch-System

Um über die Hintergründe aufzuklären, ist bereits 2020 ein Buch über das „System Tönnies“ entstanden, dessen Nachfolger nun erschienen ist. An der Publikation der Bücher waren u.a. der Bund Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND), die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), die Jour Fixe – Gewerkschaftslinke Hamburg sowie die Caritas Gütersloh beteiligt. Bereits 2020 hatten die Herausgeber*innen des ersten Buches auf die unzumutbaren Arbeitsbedingungen bei Tönnies aufmerksam gemacht. Damals bekamen die Erkenntnisse des Buches unerwartet großes Medienecho, nachdem fast zeitgleich die massenhafte Infizierung von Arbeiter*innen im Tönnies-Werk Rheda-Wiedenbrück mit dem Corona-Virus bekannt geworden war. Erstmals wurden in diesem Zusammenhang die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie breit in den Medien diskutiert. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) kündigte damals an, dass Tönnies die Zeche zahlen müsse. Mit Wirkung zum 1. Januar 2021 wurde daher das neue Arbeitsschutzkontrollgesetz erlassen, das den Einsatz von Leiharbeitenden und Werkverträgen im Kerngebiet der Fleischproduktion untersagte. Das Gesetz umfasste aber nicht alle Produktionsbereiche. So war etwa die Logistik davon ausgenommen. Das jetzt erschienene zweite Buch dient daher der Bestandsaufnahme seit Inkrafttreten des neuen Gesetzes und eruiert neue Perspektiven im Umgang mit mächtigen Unternehmen wie Tönnies.

Am 7. Oktober trafen sich daher Vertreter*innen der am Buchprojekt beteiligten Organisationen im Alten Brauhaus in Weißenfels, um vor Ort die Inhalte des Buches vorzustellen und mit betroffenen Bürger*innen der Stadt ins Gespräch zu kommen. Die Veranstaltung wurde moderiert von Diana Harnisch, stellvertretende Vorsitzende der BUND-Kreisgruppe Burgenlandkreis. Als erster Redner äußerte sich Dieter Wegner von der Jour Fixe – Gewerkschaftslinken Hamburg, der v.a. über seine Erfahrungen mit dem Tönnies-Standort Kellinghusen bei Itzehoe im Kreis Steinburg berichtete. Etwa sei der ehemalige Landrat des Kreises, Torsten Wendt, der nach Bekanntwerden unterirdischer Arbeitsbedingungen bei Tönnies den Standort Kellinghusen 2019 sogar schließen wollte, 2021 von einem parteiübergreifenden Antrag zum Rücktritt aufgefordert worden. Trotz des neuen Arbeitsschutzkontrollgesetzes gelten Werktätige bei Tönnies weiterhin als „Wegwerfmenschen“, die man nach Belieben ausbeuten könne, so Wegner. Menschen, die bei Tönnies arbeiten, seien dem Risiko gefährlicher Arbeitsunfälle wie Verstümmelungen und Verätzungen ausgesetzt. Akteur*innen, die auf die Missstände bei Tönnies aufmerksam machen wollen, würden mit Unterlassungsklagen bombardiert. Zudem schicke Tönnies Spione zu Demonstrationen, um unbotmäßige Mitarbeitende ausfindig zu machen. Das neue Gesetz von 2021 sei eine gute Sache, doch Branchen jenseits der Kernbereiche der Fleischproduktion wie etwa die Logistik seien von dem Werkvertragsverbot ausgenommen und hier gebe es immer noch Subunternehmertum. Es gelte nun, die Beschäftigen zu unterstützen. Letztlich strebe die Gewerkschaftslinke eine vollständige Rekommunalisierung der Fleischbetriebe an.

Als nächstes meldete sich Rüdiger Granz zu Wort, Fachkraft Arbeitssicherheit aus Hamburg. Granz machte deutlich, dass die Initiativen gegen Tönnies v.a. für angemessene Löhne und faire Arbeitsbedingungen eintreten. Gerade in der Fleischproduktion sei die Verletzungsgefahr auf Arbeit sehr hoch. Zerlegewerkzeuge von der Größe von Kettensägen und die Fließbandarbeit stellten ein enormes Risiko für die Beschäftigen dar. Bei Arbeitsunfällen müssten teilweise ganze Gliedmaßen amputiert werden, verletzte Angestellte hörten oftmals nicht auf zu arbeiten und würden einfach bei der Weiterarbeit notdürftig ärztlich versorgt. Arbeitsunfälle würden zudem häufig nicht als solche anerkannt, teilweise werde den Mitarbeitenden unterstellt, sie würden sich absichtlich selbst verstümmeln. Wenn Angestellte nach einer Verletzung zum Arzt gingen, würden sie meist von einem Vorgesetzten begleitet. Da viele Angestellte bei Tönnies nur schlecht Deutsch können, seien sie beim Arztbesuch vom Auftreten des Vorgesetzten abhängig. Zudem trauen sich viele nicht, Arbeitsunfälle als solche zu melden.

Danach berichtete Wiebke Claussen, Stadtplanerin aus Dortmund, darüber, wie das erste Buch zeitgleich mit dem Bekanntwerden der Corona-Infektionen bei Tönnies erschien. Doch trotz des daraufhin entstandenen Drucks auf Tönnies und der Verabschiedung des Arbeitsschutzkontrollgesetzes  „reißt die Kette nicht ab“ und das „System Tönnies“ funktioniere noch heute. Man müsse die Menschen in den Betrieben unterstützen, es gelte nun die „Betroffenen zu Beteiligten zu machen“. Deswegen würden in dem nun erschienenen Buch auch radikalere Vorschläge unterbreitet als eine Rekommunalisierung. Die katastrophale Wohnungssituation der meisten Tönnies-Angestellten sei durch das Gesetz nicht verbessert worden, nach wie vor müssten Arbeiter*innen in Sammelunterkünften und Matratzenlagern wohnen. Es gebe keine wirklichen Mietverträge, zudem seien die geforderten Mieten horrend hoch. „Schrottimmobilien“ würden so lukrativ vermietet werden können, es gebe Probleme mit Schimmel und Ungeziefer, die Arbeitenden kämen nie zur Ruhe. Zudem hängen Job und Wohnung zusammen. Verliert eine Arbeiterin ihren Job, werde sie damit gleichzeitig obdachlos. Viele Kolleg*innen bei Tönnies kommen nicht aus Deutschland, sondern etwa aus Rumänien, sie können oft nur sehr wenig Deutsch und würden zudem bewusst von der Gesellschaft isoliert. Sie können sich daher meist nicht über ihre Rechtslage informieren. Dies alles seien Praktiken, die Beschäftigten „gefügig zu halten“. Hier gelte es, die betriebliche Organisierung der Arbeitenden zu etablieren und zu verstärken.

Als letzter Redner kam Wolfgang Gotthelf vom BUND Burgenlandkreis, zudem ehemaliger Vorsitzender der Bürgerinitiative für gerechte Abwasserabgaben in Weißenfels, auf die Geschichte des Tönniessystems und des Kampfes dagegen in Weißenfels zu sprechen. Seit dem 19. Jahrhundert existiert in Weißenfels ein Schlachtbetrieb, der in den 80er Jahren umfassend ausgebaut werden sollte. Bernd Tönnies hat den Betrieb dann 1991 über die Treuhand übernommen, seitdem werde in Weißenfels die Massenproduktion von Fleisch betrieben. Die ursprüngliche Kläranlage etwa reichte nicht mehr aus und musste daher für viel Geld erweitert werden. Wolle man gegen den Konzern vorgehen, habe man mit gewaltigen Schwierigkeiten zu kämpfen, weswegen der BUND als Partner auftrete, um die Bürgerinitiativen vor Ort zu unterstützen. Zudem sei die politische Situation in Weißenfels schwierig. Normalerweise werde ein neu gewählter Oberbürgermeister (OB) nach seiner Wahl in den Stammsitz von Tönnies nach Rheda-Wiedenbrück bestellt, um dessen Kooperationsfähigkeit zu testen. Der ehemalige OB Robby Risch sei mit Hilfe der Bürgerinitiative ins Amt gebracht worden, nur um dann nach der Wahl plötzlich Millionen kommunaler Gelder in den weiteren Ausbau der Tönnies-Werke zu genehmigen, etwa für den Ankauf von Flächen oder für die Bereitstellung von Straßenanschlüssen. Auch die Betonung des Werts von Tönnies als lokaler Arbeitgeber durch Politiker*innen sei irreführend, da eben in erster Linie Arbeitskräfte aus dem Ausland eingestellt werden. Die eingenommenen Gewerbesteuern decken nicht mal im Ansatz die von der Kommune aufgewandten Mittel etwa für die Klärung der Abwässer. Man müsse daher mit anderen Tönnies-Standorten solidarisch sein und gemeinsame Strategien entwickeln. Zudem werde man das Verhalten des seit August neu im Amt befindlichen Oberbürgermeisters Martin Papke genau beobachten. Im Oktober habe dieser seinen Antrittsbesuch im Tönnies-Hauptwerk vor sich.

 

Was tun?

Diana Harnisch betonte, dass die Zahl der Schlachtungen seit Beginn der Corona-Pandemie und dem Bekanntwerden der hohen Infektionszahlen um 40 % gesunken seien. Im Zuge dessen seien gleichzeitig hunderte Menschen entlassen worden. Durch die niedrigere Schlachtzahl sei der Wasserverbrauch der Fabrik gesunken, wodurch man sich nun fragen müsse, wozu man die große von der Kommune finanzierte Abwasseranlage noch brauche. Zudem hätten die Angestellten nun noch mehr Angst, ihren Job zu verlieren. Viele wüssten, dass zum Beispiel bei einer Krankmeldung die Kündigung drohe, daher würden sich viele nicht wehren.

Eine Person im Publikum bekräftigte nachdrücklich, dass man sich vergegenwärtigen müsse, dass derartige Großbetriebe niemals wirtschaftlich arbeiteten. Ohne massive Zuschüsse öffentlicher Gelder seien solche  Konzerne nicht konkurrenzfähig. Der Bau einer geeigneten Abwasseranlage, um das Abwasser der Tönnies-Werke aufzubereiten, habe die Kommunen 100 Mio. Euro gekostet, weitaus mehr, als man durch Gewerbesteuern einnehme. Die Politik sei hier in der Verantwortung.

Wiebke Claussen betonte zudem, dass die Umstellung eines solchen Produktionssystems sehr schwer zu erreichen sei. Eine Rekommunalisierung sei daher eine „reale Utopie“, die Gewinnorientierung müsse beendet werden. Weiterhin müsse man gewerkschaftliche Hürden für die Organisierung der Angestellten abbauen, wie etwa Dolmetscher*innen bereitstellen und Selbstorganisationsstrukturen in den Belegschaften fördern.

Ein Mitglied der Freien Arbeiter*innen-Union (FAU) betonte, dass die Rekommunalisierung der Betriebe ein spannender Gedanke sei, sich aber dabei die Frage aufdränge, wie die ohnehin schon überschuldeten Kommunen dies stemmen sollten. Priorität hätte daher die gewerkschaftliche Organisation der Belegschaften. Die Angestellten müssten die Macht bekommen, dem Unternehmen zu zeigen, dass der Betrieb ohne ihre Arbeit stillstehen könne. Zudem gelte es, in Unternehmen mit Betriebsräten migrantisierte Kolleg*innen bei den Wahlen aufzustellen.

 

Der Fall Tönnies zeigt, dass kapitalistische Systeme eine enorme Macht besitzen. Bürgerinitiativen und „aufmuckende“ Kolleg*innen werden mit Gerichtsprozessen bedroht und eingeschüchtert. Die lokale Politik wird zum Kooperieren „überredet“, die weitreichende Organisation der Belegschaft durch Werkverträge oder Isolation verhindert. Nach dem Inkrafttreten des Arbeitsschutzkontrollgesetzes ist der Tönnies-Konzern verstärkt zur Produktion von veganen Produkten übergegangen. Hieran zeichnet sich einmal mehr die Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus ab. Forderungen nach politischen Veränderungen sind zweifelsohne richtig, doch es stellt sich im oben genannten Kontext die Frage, ob diese kurzfristig durchzusetzen sind. Daher ist eine Initiative von Gewerkschaften zu begrüßen, die auf verstärkte Selbstorganisierung der Mitarbeitenden setzt. Aber auch die Arbeit der Bürger*inneninitiativen vor Ort, die der Politik keine Ruhe lassen, ist in diesem Kontext zu nennen. Der Arbeitgeber ist von der Arbeitskraft seiner Angestellten abhängig. Würde diese massenhaft verweigert, könnte das System so nicht weiterlaufen und es ergäbe sich hier unter Umständen die Chance einer Veränderung.

 

Hauke Heidenreich

… ist Mitglied der Transit-Redaktion und arbeitet als Historiker am Grünen Band Sachsen-Anhalt

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.