Die Sache mit dem Meerschwein

Es ist schon kurios, wie das Leben manchmal so spielt. Kurios in diesem Falle nach der exakten Definition des Dudens, kurios also als „auf unverständliche, fast spaßig anmutende Weise sonderbar“. Fast spaßig, aber nur fast. Leider, leider. Da sitzen vier Erwachsene in einer auf gemütlich gemachten Sporthalle und gucken stumm auf ihre Füße, bis sie ganz herzlich begrüßt werden bei dieser ersten Sitzung des „Careleaver-Stammtisches“. Sie formen einen Stuhlkreis – so gut es eben geht, wenn mensch zu viert ist – A, B und C, dazu ein Ehrenamtlicher, der die drei Buchstabierten betreut.
Wie alle Beteiligten wissen, handelt es sich hierbei eher um eine Selbsthilfegruppe für Menschen, die sowohl unter bürokratischer Kälte als auch unter ihren jeweiligen missbräuchlichen Ursprungsfamilien gelitten haben, und empfinden ihre jetzige Umgebung als: schwer kurios. Kurios ist auch das mit den Meerschweinchen und den Müttern, aber dazu gleich mehr. Sie wissen nicht, was ein sogenannter Careleaver sein soll? Ja, dann denken Sie mal drüber nach, später aber, denn jetzt geht’s los. Die Anwesenden sollen zum lockeren Einstieg ihre Care-Biographien erzählen. Lassen Sie uns also eine kurze teilnehmende Beobachtung machen und beobachtend teilnehmen – auch wenn wir nicht so richtig teilnehmen werden, halt nur so teilweise, weil: nur imaginär.
Kind A ist fünf Jahre alt, kann aber noch nicht ausdrücken, dass es sich wie fünfhundert fühlen sollte, fühlen dürfte – wie auch immer. Kind A hat eine Vollzeitbeschäftigung, es steht vor dem Morgengrauen auf und schmiert Stullen für seine kleinen Geschwister (die sind nicht so wichtig, deshalb kriegen sie keinen Buchstaben).
Jedenfalls steht es in aller Herrgottsfrühe auf, JEDEN TAG, macht sich fertig für den Kindergarten und weckt dann seine Geschwister, um diese ebenfalls krippenfertig zu machen. Kind A geht in eine andere Kindertagesstätte als seine Geschwister. Sobald die drei das Haus verlassen haben (die Klitzekleinen reiben sich noch den Schlaf aus den Augen) fährt es mit der U-Bahn einige Stationen in die eine Richtung, um seine Geschwister abzuliefern, danach einige Stationen in die andere, um sich nicht zum Appell in seiner eigenen Kita zu verspäten.
Es lernt fleißig den Kita-Fisch aufzuessen, lässt sich von Torben die Decke für den Mittagsschlaf nicht wegnehmen und entlässt sich selbst am frühen Nachmittag aus der.
Betreuung. Wieder U-Bahn-Fahrt, erst zu den Geschwistern, dann zu dritt zur Tagesmutter.
Kind A hat Ambitionen. Es kommt schließlich nächstes Jahr in die erste Klasse und das soll wohl was heißen. Da entscheidet sich, wenn nicht alles, dann vieles. Da kann Kind A keine Rücksicht darauf nehmen, dass der Vater, ja, wo ist er denn überhaupt der Vater? Ist das der Vater, den der Belgier Stromae meint, wenn er singt: „Papa ou t’ai“? Gute Frage. Kind A hat darauf keine Antwort. Es kennt Stromae nicht.
Und die Mutter? Ja, die Mutter. Die liegt seit Wochen im Bett, unfähig aufzustehen, unfähig zu sterben, genauso unfähig zu leben, wie es sich für einen ordentlichen Bürger, der zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt, gehört. Und obendrauf nicht mal Bürger, sondern: BürgerIN. PAH.
Sobald Kind A mit seinen Geschwistern nach Hause kommt, kümmert es sich um diese unnütze Gestalt. Komm, Mama, trink doch was. Du musst doch was trinken. Und es führt seine alte Schnabeltasse vorsichtig an den Mund der Mutter. So läuft das eine ganze Weile. Kind A ist inzwischen ohne Schultüte eingeschult worden, hat seine eigenen Elternabende besucht, interessiert zugehört und hin und wieder etwas in krakeligen Buchstaben notiert. Sosojaja.
Eines Tages klopft es an der Tür, als Kind A und seine Geschwister sich gerade noch in ihren jeweiligen Kinderaufbewahrungseinrichtungen aufhalten.
HIER IST DAS JUGENDAMT schallt es aus dem Treppenhaus. AUFMACHEN BITTE. Mutter A liegt seit der Geburt ihres jüngsten Kindes regungslos im Bett, was soll DAS JUGENDAMT bitte daran ändern. Nichts, denkt sie kurz, als ein Sondereinsatzkommando die Tür auframmt. Notfalltüröffnung nennt sich das. Sicherheitshalber noch ein, zwei Blendgranaten hinterher, dann wird die Bude kollektiv gestürmt. DAS JUGENDAMT sieht den Zustand der Mutter. Ein Wunder, dass die Frau sich noch nicht wund gelegen hat, so ganz ohne Dekubitusmatratze. GUTENTAGWOSINDIHREKINDER, fragt DAS JUGENDAMT höflich.
WIR HABEN ANONYME HINWEISE AUS DER NACHBARSCHAFT ERHALTEN. DIE NACHBARN WUNDERN SICH WARUM SIE SIE NIE SCHREIEN ODER IHRE KINDER WEINEN HÖREN. DAS IST HOCHGRADIG VERDÄCHTIG WIE TONLOS ES BEI IHNEN IST TROTZ DREIER BÄLGER. DAHER BESTEHT DER VERDACHT, DASS SIE IHRE KINDER IN EINER TRUHE HABEN GEFRIEREN LASSEN UND DANN KLEIN GEHACKT IN DEN RHEIN GESCHMISSEN HABEN MÜSSEN – WIR MÖCHTEN SIE VOR WEITEREN MODALVERBKONSTRUKTIONEN BEWAHREN, ALSO SAGEN SIE UNS WO SIE IHRE KLEINGEHACKTEN KINDER GELASSEN HABEN.
Mutter A macht zum ersten Mal seit Monaten die Augen auf, dreht sich auf die andere Seite und schläft weiter. Bei postpartaler Depression helfen nicht mal Blendgranaten. Ein weiterer anonymer Hinweis aus der Nachbarschaft klärt DAS JUGENDAMT über den vermutlichen Aufenthaltsort der noch ganz und gar aus einem Stück bestehenden Kinder auf. DAS JUGENDAMT informiert Mutter A darüber, dass sie ihre Kinder in sichere Obhut bringen werden, sie könne ja klagen, wenn ihr das nicht passe.
Als Kind A seine Geschwister aus dem Kindergarten abholen will, sind sie nicht da. Es fährt nach Hause, vielleicht sind die beiden endlich erwachsen geworden und haben beschlossen, sich um sich selbst zu kümmern. Wie vernünftig.
Kind A schließt die Tür auf und wird von einer unheimlichen Stille begrüßt. So tonlos wie die nachbarschaftlichen Anonymen behauptet haben, ist es in Haushalt A nämlich gar nie. Es geht ins Kinderzimmer und sieht direkt vor sich einen (im Vergleich zur eigenen Körpergröße) überdimensionalen Karton.
Ein Fiepen und Kratzen und Rascheln, eine allgemeine Panik strömt aus der Pappe. Kind A schenkt dem keine Beachtung, denn es ist in beklemmender Vorahnung erstarrt. Es spürt, dass seine Mutter hinter ihm steht. Tatsächlich kommt ein Flüstern aus dem Türrahmen. Mutter A fasst seinem Kind von hinten tröstend auf die Schulter, setzt sich in die Hocke und packt den Karton aus.
mein schatz ab heute wird sich einiges ändern, aber das ist nicht schlimm, hier ist dein neuer freund elvis, möchtest du dir elvis anschauen, mein schatz, hier, ich hole ihn aus dem karton, der zoofachhandel hat mir gleich diesen käfig mitgegeben, ist er nicht putzig in seinem käfig, schau nur, wie putzig er ist, mein schatz, komm du kannst ihn ruhig rausnehmen aus dem käfig, komm mal her, ich lege ihn dir in die hand, dann kannst du mal fühlen wie warm er ist, ist er nicht unglaublich warm
Mutter A entknotet die zur Faust geballten Fingerchen ihres Kindes und legt ein winselndes Meerschweinchen in seine Hand. Elvis kackt ihm sofort mehrere Köttel hinein. Wo sind eigentlich die Geschwister?
Jedenfalls: Kind A und Kind B, ich meine: Erwachsener A und Erwachsener B werfen einander nach der Sitzung schüchterne Blicke zu. A und B wissen, dass sie jetzt eigentlich ihre Nummern austauschen sollten oder sich erkundigen sollten, ob sie nicht vielleicht an irgendeinem Ort, der keine Sporthalle ist, einen weiteren Kaffee trinken sollten. Aber sie sind zu beschäftigt mit der einen Frage, die sich ihnen stellt.
Was sich nach dem Überreichen dieser Lebendgeschenke in Meerschweinchen-Form in ihren jeweiligen Leben ereignet hat, ist gerade Banane. Die viel dringendere Frage, die sich auftut, ist natürlich Folgende:
Warum Meerschweinchen?
Was haben sich Mutter A und Mutter B gedacht? Sollte Elvis der Ersatz für Kind As Geschwister sein? War vielleicht doch ein Hauch von Zärtlichkeit in Mutter Bs Geste? Es ist wie beim Lösen von linearen Gleichungen, das X steht ja für irgendwas, mensch muss nur den Rechenweg kapiert haben. Wie war das doch gleich? Die Rechnung muss umgestellt werden, das X wandert von links nach rechts oder war es doch andersrum?
Gestern wusste ich’s doch noch, das muss gestern gewesen sein als ich an lineare Gleichungen gedacht habe, das kann doch nicht so schwer sein, verdammte Axt.
Ist ja auch egal. Wir wissen, dass die Meerschweinchen in beiden Fällen irgendeinen Symbolwert gehabt haben müssen. Mehr oder weniger zwangsläufig, wenn mensch die Option ausklammert, dass Mutter A und Mutter B die Meerschweinchen aus reinem Eigennutz angeschafft haben. Bleibt trotzdem die Frage: Warum Meerschweinchen? Warum kein Wellensittich oder ein Hundewelpe, Kind B hätte gerne einen Hund gehabt und Kind A gerne seine Ruhe, das wäre doch nicht so schwer gewesen. Kurios, kurios

