„Die globale Arbeiterklasse ist multigeschlechtlich“
Interview mit dem Politikwissenschaftler Vincent Streichhahn über die „Frauenfrage“ in der Arbeiterbewegung
Noch zu häufig werden Feminismus und Klassenkampf als Themen betrachtet, die höchstens am Rande etwas miteinander zu tun hätten. Die Linke im 21. Jahrhundert täte jedoch gut daran, diese Vorstellung hinter sich zu lassen. Um die strukturelle Verbindung von Klassen- und Geschlechterfragen in den Blick zu rücken, lohnt sich ein Blick in die Geschichte. Dazu haben wir mit dem Politikwissenschaftler Vincent Streichhahn gesprochen, der gerade einen Sammelband zum Thema mit herausgegeben hat.
Wie entstand die „Frauenfrage“ im 19. Jahrhundert und wie hielt sie Einzug in die Arbeiterbewegung?
Die „Frauenfrage“ trat Mitte des 19. Jahrhundert in Erscheinung und wurde von den Zeitgenoss*innen anfangs vor allem als Bestandteil der sozialen Frage begriffen. Die feudalen Familienzusammenhänge erodierten zunehmend, die Anzahl alleinstehender Frauen stieg. Diese hatten jedoch damals kaum die Möglichkeit einer Erwerbsarbeit nachzugehen, wenn sie nicht in die Hölle der Fabriken hinabsteigen wollten. Für Frauen bürgerlicher Herkunft schwer vorstellbar. Das Phänomen der „alten Jungfer“ wurde zu einem gesellschaftlichen Topos. Diese lebte in Armut und wenn nicht, dann zumindest jenseits der gesellschaftlichen Norm, die ein verheiratetes Hausfrauenleben für sie vorsah.
Für die Proletarierinnen stellte sich die „Frauenfrage“ anders. Sie hatten kaum eine andere Wahl, ob ledig oder nicht, einer Lohnarbeit nachzugehen, damit sie und ihre Familie nicht verhungerten. Dieses Problem wurde in den Arbeiterorganisationen seit den 1860er Jahren diskutiert. Während aber die Anhänger Ferdinand Lasalles die Frauenarbeit einfach verbieten wollten, setzte sich zunehmend die Position durch, dass die Erwerbsarbeit der Frau eine Voraussetzung für ihre Emanzipation im Kontext der Arbeiter*innenbewegung sei. Das war aber ein längerer Prozess, der von einzelnen Akteur*innen, wie August Bebel, Wilhelm Liebknecht, aber auch Clara Zetkin und Emma Ihrer, vorangetrieben wurde.
Bebel und Zetkin, aber auch Friedrich Engels haben ja auch die ersten wichtigen Schriften zur Frauenfrage in der Arbeiterbewegung geschrieben. 1879 erschien Bebels „Die Frau und der Sozialismus“, ein paar Jahre später „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ (1884) von Engels und schließlich Zetkins „Die Arbeiterinnen- und Frauenfrage in der Gegenwart“ (1889). Für wen wurden solche Texte geschrieben und welchen Einfluss hatten sie?
Die Antwort auf diese Frage könnte ein ganzes Buch füllen. Hier in aller Kürze: Im Grunde sind das nicht nur die ersten wichtigen Schriften zur „Frauenfrage“ in der Arbeiter*innenbewegung, sondern für lange Zeit auch die einzigen. Sicherlich wurde in den sozialdemokratischen Zeitungen auch danach darüber diskutiert, aber substanziell Neues kam kaum hinzu. August Bebels Werk ist gewiss bis heute das bekannteste. Die „Berliner Illustrierte“ fragte ihre Leser*innen 1898 nach dem einflussreichsten Buch des letzten Jahrhunderts. Bebels „Frau“ kam nach dem Konversationslexikon, der Bibel und der Entstehung der Arten von Darwin bereits auf Platz vier.
Die ersten Auflagen von „Die Frau und der Sozialismus“ sind noch stärker vom Liberalismus geprägt, der Bebel politisch sozialisierte, und nicht strikt marxistisch. Die materialistische Ausrichtung wurde mit den Jahren und Überarbeitungen durch Bebel immer stärker entwickelt, was auch dem Einfluss von Friedrich Engels‘ Buch geschuldet war. Beide Arbeiten waren m.E. immens wichtig, um den proletarischen Antifeminismus in der Arbeiter*innenbewegung zurückzudrängen. So setzte sich Bebel zu Beginn seines Buches ausführlich mit der Forderung des Verbots der Frauenarbeit auseinander, um deren Rückständigkeit zu betonen.
Clara Zetkin knüpfte in gewisser Hinsicht an Bebel und Engels an. Ihre verschriftlichte Rede vom Gründungskongress der II. Internationale 1889 in Paris ist vom Umfang viel schmaler und hebt stärker auf die Lebensrealität proletarischer Frauen ab. Zetkin entwickelt hier im Grunde die Grundrisse eines Aktionsprogramms der proletarischen Frauenbewegung, welches sie in den 1890er Jahren weiter verfeinerte. Geschrieben wurden alle drei Beiträge für die Bewegung, ihr Anteil am Zurückdrängen des proletarischen Antifeminismus ist nicht zu unterschätzen.
Ab wann spricht man von einer proletarischen Frauenbewegung und was waren ihre Themen? Was waren ihre Aktionsformen? Welche Rolle spielten Streiks?
In den 1880er Jahren kam es zu ersten primär gewerkschaftlich orientierten Zusammenschlüssen von proletarischen Frauen. Die Textilindustrie, in der auch gestreikt wurde, hat dabei als sogenannte „Frauenindustrie“ eine bedeutende Rolle gespielt. Doch die Sozialistengesetze (1878-1890), also das Verbot der Organisationen der Sozialdemokratie, verschonte auch die Arbeiterinnen nicht. Ihre Organisationen wurden immer wieder verboten, ihre Aktivistinnen verhaftet oder ins Exil getrieben, während die bürgerlichen Frauenvereine relativ unbehelligt tätig sein konnten. Diese Erfahrung der Kriminalisierung und Verfolgung brachte die proletarische Frauen- und Arbeiterbewegung weiter zusammen. Etwas pathetisch gesprochen: Sie teilten ein gemeinsames Schicksal.
Nach der Aufhebung der Sozialistengesetze organisierten sich die proletarischen Frauen innerhalb der Sozialdemokratie, wenngleich das im Grunde weiterhin illegal war. Die Mitgliedschaft in politischen Vereinen und die Teilnahme an politischen Versammlungen war Frauen durch das preußische Vereinsgesetz noch bis 1908 verboten. Die 1890er Jahre standen daher im Zeichen der Suche nach geeigneten Organisationsformen, die die Bewegung handlungsfähig machten. Der Notbehelf der „Vertrauenspersonen“ ermöglichte es, unter den prekären Bedingungen ein Netzwerk der proletarischen Frauenbewegung aufzubauen. Wir können in diesen Jahren also den Aufbau einer Bewegung erleben, mit allem was dazu gehört. Der Gründung der „Gleichheit“, also einer eigenen Zeitschrift, Diskussionen über Strategien wie die notwendige Agitation unter Arbeiterfrauen oder über Positionen wie die Ausgestaltung des Arbeiterinnenschutzes usw.
Gab es denn auch in Halle und Umgebung wichtige Akteurinnen der proletarischen Frauenbewegung?
Diese Frage würde ich gern beantworten können, aber muss Dich leider enttäuschen. Ich habe mich länger mit der regionalen Arbeiter*innenbewegung im heutigen Sachsen-Anhalt beschäftigt (siehe auch den Seitenkasten). Dabei ist mir aufgefallen, dass die regionale Frauenbewegung ein weißer Fleck in der Forschungslandschaft ist. Neben wenigen kleinen Halbsätzen findet sich dazu nichts in der Forschungsliteratur. Das heißt gewiss nicht, dass es keine Frauenbewegung in der Region gegeben hätte. In der Novemberrevolution gründeten die bürgerlichen Frauenvereine in Magdeburg sogar einen Frauenrat, dem die proletarischen Frauen jedoch fernblieben, wie sie auf eigenen Frauenversammlungen beschlossen hatten. Es wäre notwendig, einmal tief in den zeitgenössischen Quellen zu stöbern, um diese verschüttete Geschichte zu erzählen. Das würde ich gerne in Zukunft einmal tun, aber mir fehlen aufgrund anderer Forschungsprojekte dafür derzeit die Kapazitäten.
Die klassische Arbeiterbewegung – also das Industrieproletariat – und ihre Organisationen gelten vielen heutzutage als Beispiele für eine rückständige, patriarchale Kultur, die für heutige Kämpfe keine Relevanz mehr hat. Aber ließe sich von Arbeiter*innenbewegung als ganzer und von der proletarischen Frauenbewegung im Besonderen für heutige feministische Kämpfe nicht doch etwas mitnehmen?
Die Arbeiterbewegung, hier bewusst im generischen Maskulinum, setzte sich anfangs kaum aus dem Industrieproletariat zusammen, das Mitte des 19. Jahrhunderts nur eine Minderheit darstellte. Die soziale Basis der Arbeiterorganisationen bestand zu dieser Zeit vor allem aus Handwerksgesellen und kleinen Meistern, die die Erwerbsarbeit von Frauen als „Schmutzkonkurrenz“ ablehnten. Diese Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung hat der Historiker Werner Thönnessen daher als „proletarischen Antifeminismus“ charakterisiert. Die dahinter liegende antifeministische Kultur war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert stark ausgeprägt und ähnelten in vielen Fragen bürgerlichen Familienvorstellungen.
Allerdings waren und sind die Arbeiter*innenorganisationen keine monolithischen und unveränderbaren Entitäten. Die Vorstellung des weißen Lohnarbeiters als Repräsentant der Arbeiter*innenklasse war immer schon ein Mythos, wenn auch ein wirkmächtiger. Er bildete immer nur einen Teil der Realität ab und die proletarische Frauenbewegung hat gezeigt, wie sich diese Wahrnehmung und damit die Gestalt der organisierten Arbeiter*innenklasse durch eine kollektive Praxis verändern lassen.
Insgesamt stellte die Arbeiter*innenbewegung des Kaiserreichs eine ungemein demokratisierende Kraft dar. Wir sind im 21. Jahrhundert weiterhin gut damit beraten, die kollektiven Organisationen nicht aufzugeben. Eine solidarische, feministische, ökologische Welt ist möglich, aber nur durch eine kollektiv-solidarische Praxis, wofür Arbeiter*innenorganisationen zwar nicht die einzigen Organisationen, aber unabdingbar sind.
„Insgesamt stellte die Arbeiter*innenbewegung des Kaiserreichs eine ungemein demokratisierende Kraft dar. Wir sind im 21. Jahrhundert weiterhin gut damit beraten, die kollektiven Organisationen nicht aufzugeben. Eine solidarische, feministische, ökologische Welt ist möglich, aber nur durch eine kollektiv-solidarische Praxis, wofür Arbeiter*innenorganisationen zwar nicht die einzigen Organisationen, aber unabdingbar sind.“
Stichwort „proletarischer Antifeminismus“: Welche Rolle spielten dabei die materiellen Unterschiede zwischen bürgerlichen Familien und denen der Arbeiter*innen? Die klassische Rollenverteilung war ja hier viel schwieriger durchzuhalten, da alle Haushaltsangehörigen – selbst die Kinder – arbeiten mussten, um den Lebensunterhalt zu sichern. Das führte sicherlich nicht zur Dekonstruktion von Geschlechterrollen, aber vielleicht doch zu mehr Gleichheit und zu gemeinsamen Erfahrungen. Clara Zetkin setzte sich ja auch für die Ausweitung der Frauenarbeit ein – weil gemeinsame Erfahrungen im Arbeitsalltag bei der gemeinsamen Organisierung helfen sollten.
Die soziale Basis des „proletarischen Antifeminismus“ in der frühen deutschen Arbeiterbewegung liegt im alten Handwerkswesen. Vorherrschend ist da noch das Konzept des „gesamten Hauses“, in dem noch keine strikte lokale Trennung von Reproduktion und Produktion stattgefunden hat. Hier prallt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Tradition auf Moderne. Die Industrialisierung, aber auch Prozesse der Urbanisierung usw. führten zu einer Auflösung dieser alten Familienverhältnisse. Auf dem Land waren diese noch länger prägend, aber das war nicht primär das Milieu der Sozialdemokratie. Familie meinte für die Arbeiter*innen damals keine verwandtschaftsbasierte Kleinfamilie, sondern das waren Großfamilien, in denen auch Bedienstete unterkamen.
Diese Form der feudalen Familie wurde nicht einfach nahtlos von der Kleinfamilie ersetzt, sondern Bekannte, Nachbarn, Freunde hatten im Proletariat als kollektive Netzwerke weiterhin eine große Bedeutung. Dass in der Industrialisierung auch verstärkt auf die Arbeitskraft von Kindern und Frauen – „das erste Wort der kapitalistischen Anwendung der Maschinerie“, wie Marx im Kapital schreibt – gesetzt wurde, führte meines Erachtens nicht zwangsläufig zu mehr Gleichheit. Frauen und Kinder hatten meist die prekärsten und gesundheitsschädlichsten Anstellungen, verdienten nur einen Bruchteil von den Männerlöhnen. Die Proletarierinnen mussten darüber hinaus noch die unbezahlte Hausarbeit leisten. Aber natürlich untergrub diese Tatsache die bürgerliche Kleinfamilie als realisierbares Modell für weite Teile der Arbeiter*innenschaft.
In der marxistischen Theorie, die sich ja in der Arbeiter*innenbewegung erst durchsetzen musste, war die Erwerbstätigkeit die Voraussetzung für den Emanzipationsprozess und die gemeinsame Praxis. Das war ein wichtiger Schritt weg von den Forderungen des Verbots der Frauenarbeit von Seiten proletarischer Antifeministen.
Welche Rolle spielte die Erfahrung der Doppelbelastung – Haushalt und Arbeit – für den politischen Kampf der Frauen? Da gibt es ja auch einen deutlichen Unterschied zur bürgerlichen Frauenbewegung…
Das war eine total bedeutende Erfahrung, welche die politischen Forderungen der Frauenbewegung beeinflusste. Während sich die proletarische Frauenbewegung, darunter Clara Zetkin, zunächst gegen spezielle Arbeiterinnenschutzbestimmungen aussprachen, wandelte sich ihre Meinung rasch. Einerseits lehnten sie solche Forderungen erst ab, da sie befürchteten, dass sich dahinter nur Arbeitsverbotsforderungen verbargen. Andererseits gelangten sie zu der Überzeugung, dass die proletarische Frau eine gewisse Entlastung benötigt, damit sie überhaupt politisch aktiv werden kann. Zwar wollte man die Gleichberechtigung der Geschlechter, aber man erkannte auch an, dass die Arbeitssituation der Proletarierin im Kapitalismus besonders prekär war.
Bei Zetkin war das Spannungsfeld zwischen Berufs- und Mutterpflichten, wie sie es nannte, immer ein wichtiges Thema. Sie ging zwar nie so weit, die Kindererziehung und den Haushalt komplett von der Frau zu lösen und dem Mann hauptverantwortlich zu überlassen, aber sie plädierte häufiger für eine stärkere Beteiligung des Mannes bei solchen Aufgaben. Das sollte allgemein zu einem gleichberechtigten Geschlechterverhältnis beitragen, aber der Frau insbesondere die politische Arbeit ermöglichen.
Die Arbeiterklasse muss sich im Sinne des „Making“ von E.P. Thompson immer erst herstellen – durch ein Zurückgeworfenwerden auf eine gemeinsame historisch-ökonomische Position, durch gemeinsames Handeln und gemeinsame Erfahrungen. Hat es in der Geschichte Momente gegeben, in denen dies für eine Arbeiter*innenklasse galt, in denen sich also Menschen unabhängig vom Geschlecht und gleichberechtigt artikuliert haben, weil ihre Gemeinsamkeit die Lohnabhängigkeit war?
Ich glaube, das Bild ist etwas schief. Thompson betont, dass die Arbeiter*innenklasse nicht einfach unmittelbar aus den Produktionsbeziehungen hervorgeht, sondern an ihrer eigenen Entstehung durch geteilte Erfahrungen und Selbstidentifikation maßgeblich beteiligt ist. Die Arbeiter*innenklasse existiert also nicht einfach aufgrund einer vermeintlich geteilten historisch-ökonomischen Position. Das ist eine total wichtige Erkenntnis.
Feministische Historikerinnen wie Anna Clark haben jedoch auf die geschlechtlichen Unzulänglichkeiten von Thompson Studie hingewiesen. Frauen würden in der maskulinen Erzählung von Thompson marginalisiert. Die Arbeiten von klassischen Vertreterinnen der Frauengeschichtsschreibung wie Joan W. Scott oder Kathleen Canning haben eindrucksvoll die konstitutive Bedeutung des Geschlechts für die Klassenbildung und -identität demonstriert.
Die alleinige Berufung auf die Lohnabhängigkeit als einendes Moment erscheint mir daher wenig erstrebenswert, weil andere Fragen dabei herunterfallen. Was ist mit denjenigen die keiner Lohnarbeit nachgehen, weil sie bspw. unbezahlt reproduktiv tätig oder erwerbslos sind? Daran anknüpfend: Wie organisieren wir als Gesellschaft gemeinsam die Reproduktion, ohne wieder auf geschlechtliche und ethnische Diskriminierungen zurückzugreifen? Wie schaffen wir es, das Ökosystem der Erde zu erhalten? Das sind alles Fragen, die weder nachrangig sind, noch leitet sich deren Beantwortung aus der Gemeinsamkeit der Lohnabhängigkeit (mancher) ab.
Wie organisieren wir als Gesellschaft gemeinsam die Reproduktion, ohne wieder auf geschlechtliche und ethnische Diskriminierungen zurückzugreifen? Wie schaffen wir es, das Ökosystem der Erde zu erhalten? Das sind alles Fragen, die weder nachrangig sind, noch leitet sich deren Beantwortung aus der Gemeinsamkeit der Lohnabhängigkeit (mancher) ab.
Darauf wollte ich hinaus. Thompsons Verdienst besteht m.E. darin, dass er den Blick auf die Arbeiter als Subjekte, statt als Objekte der Geschichte gerichtet hat. Zurecht ist kritisiert worden, dass es sich bei seinen Subjekten tatsächlich nur um die männlichen Arbeiter handelt. Nichtsdestotrotz lässt sich der Ansatz nutzen, um neue Fragen aufzuwerfen. Einige hast du genannt. Ich glaube, dass gemeinsame Erfahrungen ganz wichtig sind, um gemeinsam politisch handlungsfähig zu sein. Und doch sind die geschlechtsspezifischen Erfahrungen von Frauen, Männern und Nicht-binären unterschiedlich. Da ist ein Widerspruch und die Frage für linke Politik ist doch, wie man damit umgeht. Ich denke, feministische Anliegen erscheinen manchen vielleicht als Nebensächliches, aber das ist ein Irrglaube. Kapitalistische Ausbeutung funktioniert nicht ohne geschlechtsspezifische Ausbeutung. Geschlechterpolitische Aspekte müssten als Teil von Klassenkämpfen begriffen werden. Wie lassen sich also gemeinsame politische Erfahrungen machen?
Wir müssen aufhören, das als Widerspruch zu denken. Sonst geraten wir schnell in die Vorstellung eines vermeintlichen Gegensatzes zwischen Identitäts- und Klassenpolitik, wie es seit einiger Zeit von manchen Autor*innen behauptet wird. Abgesehen davon, dass der Kampf gegen Rassismus und Sexismus teilweise ganz handfeste materielle Fragen aufwirft, haben doch Thompson und andere die grundlegende Bedeutung von Identitätsfragen für den Prozess der Klassenformierung aufgezeigt. Unsere mannigfaltigen Identitäten, die durch unterschiedliche und gemeinsame Erfahrungen geprägt sind, wurden in der Geschichte immer wieder als Spaltungslinien genutzt. Stattdessen kommt es darauf an, die Vielfältigkeit der Kämpfe und unserer Identitäten nicht als Manko, sondern als Stärke zu betrachten.
Hier besteht ein Potenzial, das in Zeiten der Pandemie für uns alle sichtbar geworden ist. Wir müssen die Verbindungen zwischen der prekären Situation in den Krankenhäusern, Pflegeheimen, Schulen und Betrieben herstellen. Was daraus entsteht, liegt ganz bei uns.
Fakt ist: Die globale Arbeiterklasse ist multiethnisch, multigeschlechtlich und hat verschiedene Begabungen. Meiner Meinung nach geht es darum, die Bedürfnisse der arbeitenden Klasse in all ihrer Vielfältigkeit ins Zentrum zu rücken. Wie das genau aussehen kann, weiß ich nicht. Ich finde, Inspiration bieten die globalen Kämpfe im Bereich der sozialen Produktion, welche es teilweise geschafft haben, die verschiedenen Formen des Klassenkampfes miteinander zu verbinden. Hier besteht ein Potenzial, das in Zeiten der Pandemie für uns alle sichtbar geworden ist. Wir müssen die Verbindungen zwischen der prekären Situation in den Krankenhäusern, Pflegeheimen, Schulen und Betrieben herstellen. Was daraus entsteht, liegt ganz bei uns.