„Die Betroffenen haben sich einen Ort der Aufarbeitung geschaffen“

Interview mit Igor Matviyets zum Jahrestag des rechtsterroristischen Anschlags

Der antisemitische und rassistische Anschlag vom 09. Oktober 2019 ist nun ein Jahr her. Was ist seit dem geschehen und was sind Leerstellen in der Aufarbeitung? Mit dem Prozess zum Anschlag kommen seit Mitte Juli viele Perspektiven zu Wort. Auch Igor Matviyets beobachtet den Umgang mit dem Anschlag in Halle. Wir haben ihn dazu befragt.

Der Prozess

Transit: Wie intensiv verfolgst Du den Prozess?

Matviyets: Sehr aufmerksam und dank der vielen Live-Tweets geht das sehr gut. Ich war auch zwei Mal persönlich vor Ort, ein Mal beim Beginn und ein Mal an einem Tag, als die Nebenklage Erklärungen abgegeben hat. Dieser Prozess hat eine wichtige Bedeutung für die Aufarbeitung, weil er vor allem nicht als Alibi für eine notwendige gesellschaftliche Aufarbeitung zweckentfremdet werden soll.

T: Welchen Eindruck hast du vom Ablauf des Verfahrens, der Rolle der Nebenkläger*innen und der Performance der Richterin?

M: Mit großer Bewunderung habe ich die Nebenklage live erlebt. Jurist*innen und Betroffene drücken ihre weltoffene, antifaschistische Haltung klar aus. Sie zertrümmern die Ideologie des Attentäters. Dieses starke Bild, dass die Nebenklage abgegeben hat, war wirklich inspirierend, weil da Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund, Muslim*innen und Jüd*innen ihre Meinung über die Tat und den Täter frei äußern können und so ein starkes Bild von Diversität produzieren.

Da ich kein Jurist bin, kann ich das Verhalten der Richterin nicht so gut einschätzen. Der Umgangston ist manchmal zu flapsig gewesen und es wirkt an manchen Stellen so, als ob die Richterin davon ausgeht, dass sie den Angeklagten mit den richtigen Argumenten auf die „gute Seite“ ziehen kann. Das befremdet mich schon, aber mir fehlt der Vergleich zu anderen Verhandlungen dieser Art.

„Mein Eindruck ist, dass es da zu einer sehr schönen Zusammenarbeit in der Nebenklage gekommen ist. Trotz oder gerade wegen der ganzen genannten Unterschiede. Die Betroffenen haben sich in dieser neuen Gemeinschaft einen Ort der Aufarbeitung geschaffen.“

T: Die Betroffenen des Anschlags repräsentieren unterschiedliche gesellschaftliche Verhältnisse und Positionen. Da ist die jüdische Gemeinde Halle, die eher linksliberalen US-Amerikaner*innen, die in der Synagoge zu Gast waren, die Betreiber des Kiez-Döner, deren Gäste, das schwer verletzte Ehepaar und die Betroffenen der Autowerkstatt in Wiedersdorf (Saalekreis), Aftax Ibrahim, der aus rassistischer Motivation angefahren wurde und weitere mehr. Gibt es da eine Bezugnahme aufeinander? Ein Gemeinschaft stiftendes Moment vielleicht sogar?

M: Mein Eindruck ist, dass es da zu einer sehr schönen Zusammenarbeit in der Nebenklage gekommen ist. Trotz oder gerade wegen der ganzen genannten Unterschiede. Die Betroffenen haben sich in dieser neuen Gemeinschaft einen Ort der Aufarbeitung geschaffen. Neue Netzwerke und Freundschaften sind entstanden. Ismet Tekin reist beispielsweise zu Kundgebungen nach Hanau und nach Berlin. Spricht und trifft sich mit den Opfern anderer rassistischer und antisemitischer Verbrechen. Das sind alles schöne Reaktionen auf ein mörderisches Attentat.

© Initiative 9.Oktober
Raum der Erinnerung und Solidarität

Antisemitismus in Halle

T: Wird die Gefahr des Antisemitismus in Halle unterschätzt?

M: Ja. Es fehlt der Wille der Mehrheitsgesellschaft unbequeme Wege zu gehen, um ein vielfältiges Leben in Halle zu stärken. Die Hetze vom bekannten halleschen Stadtnazi auf dem Marktplatz wurde zu lange toleriert und erst nach dem Anschlag entschieden bekämpft. Mich freut es natürlich, dass sich jetzt dem Nazi mit den vielen T-Shirts so viele Menschen entgegenstellen, aber er macht diese menschenfeindliche Show seit 2014. Und speziell beim Thema Antisemitismus hat die Stadt seit dem Attentat ehrlich gesagt Nichts unternommen, bis auf mahnende Worte. Da wird die Verantwortung auf Land und Bund abgeschoben. Dabei kann die Stadt auch aktiv werden und beispielsweise Mitarbeiter*innen beim Thema Antisemitismus sensibilisieren, Bildungsstätten schaffen und vieles mehr. Nur ein Beispiel ist das bis heute nicht beachtete KZ-Außenlager Birkhahn in Mötzlich. Da kann noch sehr viel passieren, wenn die Stadt denn will.

„Es fehlt der Wille der Mehrheitsgesellschaft unbequeme Wege zu gehen, um ein vielfältiges Leben in Halle zu stärken.“

T: Der OB Wiegand betonte im Interview mit Radio Corax, dass Halle kaum Probleme mit Rechtsextremismus hätte und der Täter ja auch nicht aus Halle käme. Was fällt Dir zu dieser Argumentation ein?

M: Peinlich und schmerzhaft, weil es an dem Problem völlig vorbeigeht mit Postleitzahlen zu argumentieren. Wir haben auch in Kleingartenanlagen in Halle Reichsflaggen, die jahrelang ungestört hängen. Das sind dann de facto Zonen, in denen Menschen, wie ich, nicht willkommen sind bzw. sich ungeschützt fühlen. Das darf der Oberbürgermeister nicht ignorieren. Oder natürlich der Nazi vom Marktplatz und sein in Halle ansässiger Vertrieb, der in ganz Deutschland antisemitische und rassistische Artikel vertreibt. Der Oberbürgermeister hat sich mit dieser Äußerung eindeutig vergriffen.

© Initiative 9.Oktobe
„Gegen jeden Antisemitismus“

Der Umgang mit dem Anschlag in Halle

T: Welche Reaktion auf den Anschlag in Halle fandest Du hilfreich für dessen Verarbeitung, was hast Du vielleicht vermisst, bzw. was müsste in Halle passieren, um dem alltäglichen Antisemitismus und Rassismus zu begegnen?

M: Reaktionen sind allgemein gut, weil sie das Attentat nicht ignorieren. Klar gibt es nach einem solchen schweren Anschlag auch Reaktionen, die ich nicht so passend fand, aber ich würde jetzt nicht mit dem Finger auf Menschen zeigen, die sich kümmern. Wichtig ist, dass Aktionen mit Betroffenen rückgesprochen werden, bzw. bei der Planung die Perspektive der Betroffenen einbezogen wird. Für die Verarbeitung hat ja ohnehin jeder seine eigene Art und Weise und da sind manchmal öffentliche Reaktionen hilfreich und manchmal nicht. Das ist eine sehr individuelle Geschichte.

„Die CDU pflanzt von allen Parteien die meisten Bäume in Yad Vashem. Aber wenn es wirklich drauf ankommt und in CDU-Gremien Menschen mit Hakenkreuzen am Ellbogen entdeckt werden, dann braucht die CDU zwei Wochen Zeit, um das Problem irgendwie und meist ungalant zu lösen.“

T: Die Reaktionen auf solche Anschläge rufen in der Politik immer auch ritualisierte Reaktionen hervor und es gibt so eine gewisse Phrasenhaftigkeit, wenn wiedermal von „nie wieder“ und ähnlichem die Rede ist. Was hältst du davon? Ist das Verlogenheit? Abgestumpftheit? Hilflosigkeit?

M: Es ist eine Mischung aus Verlogenheit und Hilfslosigkeit. Die CDU beispielsweise pflanzt von allen Parteien, so ist mein Gefühl zumindest, die meisten Bäume in Yad Vashem, der internationalen Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem. Aber wenn es wirklich drauf ankommt und in CDU-Gremien Menschen mit Hakenkreuzen am Ellbogen entdeckt werden, dann braucht die CDU zwei Wochen Zeit, um das Problem irgendwie und meist ungalant zu lösen. Wie zuvor gesagt: Es fehlt vor allem in der Politik der Mut unbequeme Wege zu gehen, um in der Mehrheitsgesellschaft für mehr Solidarität mit Minderheiten zu werben. Da muss man auch mal ganz praktisch seine Facebook-Freundesliste durchgehen und die Nazis entfreunden oder einfach im Alltag Zivilcourage zeigen, wenn man Zeuge von Antisemitismus, Rassismus und anderer Diskriminierung wird. Aber dazu fehlt vielen Menschen der Mut und da ist die Politik in Sachsen-Anhalt nicht anders. Zumal es im Land kaum Menschen mit Migrationshintergrund in Verantwortung gibt. Das erschwert auf jeden Fall den Umgang mit Rechtsextremismus, da die Betroffenheitsperspektive fehlt.

T: Wenn Du einen Wunsch an die Stadtgesellschaft in Halle zum Jahrestag hättest, welcher wäre das?

M: Nehmt die vielen Angebote wahr. Zivil organisierte Demos und Orte des ruhigen Gedenkens und des Austauschs, Ausstellungen, Medienbeiträge und die Live-Streams der zentralen Gedenk-Veranstaltungen. Ich habe Angst davor, dass ich auch beim Jahrestag wieder „nur“ die gleichen tollen engagierten Menschen wiedersehe und sich aus der breiten schweigenden Mehrheit kaum jemand beteiligt. Wir haben in Halle 240.000 Menschen und freuen uns schon, dass 2.000 Menschen nach dem Anschlag Kerzen niedergelegt haben. Das sind alles wunderbare Menschen, aber es sind halt trotzdem nur bisschen weniger als 1% der Stadtbevölkerung.

© Initiative 9. Oktober
„Es reicht schon lange nicht mehr…“

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