Deutschland und die Nato

Kurze Geschichte einer Bündnistreue … für den nationalen Vorteil

Das NATO-Militärbündnis entwickelte sich nach dem Kalten Krieg zu einer Interventionsarmee und zur Besatzungsmacht. Dabei hielt Deutschland der NATO trotz aller Spannungen und teils gegenläufiger Interessen innerhalb des Bündnisses immer die Treue und wirkt zum nationalen Vorteil an deren Ausbau mit. Der letzte Beitrag aus der Corax-Programmzeitung Oktober/ November von Jörg Kronauer.

Ungewohnte Überlegungen konnte man am 11. August in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung lesen. Das Blatt hatte dem emeritierten Historiker Gregor Schöllgen, der bis 2017 Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Erlangen gelehrt hatte, eine ganze Seite eingeräumt, um seine Gedanken zu den beiden mächtigen Zusammenschlüssen darzulegen, denen die Bundesrepublik seit vielen Jahrzehnten angehört: zur NATO und zur EU. Schöllgen analysierte Geschichte und Gegenwart der zwei Organisationen und kam zu dem Schluss, beide habe eine „schleichende Auflösung“ erfasst, eine Art „Implosion“, die man am deutlichsten am Brexit und an der Polemik des gegenwärtigen US-Präsidenten gegenüber dem Kriegsbündnis erkennen könne. „Reformen“, die „diesen Namen verdienen“, müssten „tiefgreifend und konsequent“ sein; sie seien wohl undurchführbar, schieden also aus. „Daher sollte man den britischen Austritt aus der EU und den amerikanischen Rückzug aus der Nato als Chance begreifen“, fuhr Schöllgen fort: „Es gilt, geregelt zu vollenden, was längst in vollem Gange ist.“ Worauf Schöllgen hinaus wollte, das hatte schon die Überschrift auf den einfachen Nenner gebracht: „Nato und Europäische Union sind nicht mehr nötig“.

Vom „Schutzbündnis“ zur Interventionsarmee…

Eine Debatte um die Rolle der EU – das wäre ein eigenes Kapitel. Grundsätzliche Gedanken über die Bedeutung der NATO für die BRD hingegen hatten sich manche im deutschen Establishment schon vor fast zwei Jahrzehnten gemacht. Das westliche Kriegsbündnis hatte die Funktion, die es in der Ära des Kalten Krieges besaß, mit dessen Ende offensichtlich verloren. In den 1990er Jahren hatte es sich als Interventionsmacht bei der Zerschlagung Jugoslawiens über Wasser gehalten. Um die Jahrtausendwende schien dann nicht mehr ganz klar, wie es weitergehen sollte. Damals hatte die EU gerade begonnen, auf eine gemeinsame Außen- und Militärpolitik zu orientieren, und die Weichen konsequent in Richtung gemeinsame europäische Streitmacht gestellt. „Die Europäische Union wird wichtiger werden“, erklärte im November 2001 zum Beispiel Christoph Bertram, damaliger Direktor des Berliner Think-Tanks Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP): „Die Nato wird an den Rand gedrückt“. Ähnlich sahen es andere auch. Die NATO, so schien es nicht wenigen, hatte sich mit dem Sieg im Kalten Krieg mehr oder weniger überflüssig gemacht.

…zur Besatzungsmacht

Nun, es ist anders gekommen. Tatsächlich gelang es den NATO-Staaten, in Afghanistan eine neue Ära für das Kriegsbündnis einzuleiten. Im Dezember 2001 sicherten sie sich die Führung der International Security Assistance Force (ISAF), die in den folgenden 13 Jahren die Besetzung Afghanistans übernahm, Aufstände bekämpfte und vor allem eine prowestliche Regierung im Amt hielt. Die NATO wurde damit zur Interventions- und Besatzungsmacht am Hindukusch – und das ist sie, seit Ende 2014 unter der Bezeichnung Resolute Support Mission, bis heute. In fernen Weltgegenden bei Bedarf im NATO-Rahmen zu intervenieren, keineswegs nur in Afghanistan – das war seit 2001 eine echte Option für die deutschen Eliten, und in gewissem Maß ist es das noch heute. Freilich gibt es aus der Perspektive der herrschenden Kreise in der BRD mittlerweile noch eine zweite Variante: Militäreinsätze im Rahmen der EU. Die NATO ist also nicht mehr die einzige Option.

Militäreinsätze mit EU-Mandat

Lange Zeit schien das, von außen betrachtet, keine besondere Rolle zu spielen. Die Bundeswehr startete mit der EU in den Jahren 2003 und 2006 jeweils für ein halbes Jahr in einen Militäreinsatz in der Demokratischen Republik Kongo, während sie mit der NATO in Afghanistan stand; beides vertrug sich problemlos miteinander. Am Horn von Afrika gab es zur Piratenbekämpfung eine Zeitlang sogar eine EU- und eine NATO-Intervention parallel; sie stimmten sich eng miteinander ab. Nun stellt sich freilich die Frage, wieso die EU es sich unbedingt leisten muss, für viel Geld eigene Militärstrukturen aufzubauen, wenn in der NATO schon seit Jahrzehnten erprobte Apparate zur Verfügung stehen. Die Antwort ergibt sich exemplarisch aus der Debatte um einen etwaigen Marineeinsatz an der Straße von Hormuz, die im Sommer 2019 begann. Iran hatte dort nach der Festsetzung eines iranischen Öltankers in Gibraltar ein britisches Schiff beschlagnahmt und damit im Westen eine Diskussion ausgelöst, ob man einen Marineeinsatz zum Schutz des Seehandels im Persischen Golf starten solle. Die Vereinigten Staaten nahmen umgehend Kurs darauf. Die Bundesregierung stellte bald klar, die deutsche Marine werde sich nicht beteiligen, dafür aber eine „europäische“ Intervention in Betracht ziehen. Der Grund: Berlin und Washington stritten seit geraumer Zeit über die Iran-Politik; aus Sicht der Bundesregierung kam es daher nicht in Frage, deutsche Kriegsschiffe vor Irans Küste US-amerikanischem Kommando zu unterstellen. Mit Blick auf den Konflikt zwischen Deutschland und den USA erwies die eigenständige Kriegsfähigkeit der EU ihren politischen Wert.

Das bedeutet nicht, dass die NATO aus der Perspektive der deutschen Eliten ihre Bedeutung für die BRD verloren hätte: Dass Berlin und Washington in manchen Fragen über Kreuz liegen, heißt ja nicht, dass sie nicht in anderen Fragen recht ähnliche Interessen verfolgten und gemeinsam handeln könnten. Ein Beispiel dafür ist der Aufbau von NATO-Kapazitäten gegen Russland. Die Interessen Berlins und Washingtons gegenüber Moskau sind nicht identisch; sie treffen sich jedoch in dem Ziel, Russlands Stellung in Ost- und Südosteuropa zu schwächen sowie seinen Einfluss auf die Weltpolitik insgesamt zurückzudrängen. Entsprechend hat die NATO im Jahr 2014 den Aufbau einer besonders schnell einsetzbaren Eingreiftruppe („NATO-Speerspitze“) beschlossen – sie startete übrigens unter deutscher Führung – und im Jahr 2017 mit der Stationierung von Einheiten in den baltischen Staaten und Polen begonnen, ebenfalls unter maßgeblicher deutscher Beteiligung. Für deutsche Eliten ist die Nutzung der NATO dabei sogar deutlich wirkungsvoller als eine etwaige Stationierung von EU-Truppen: Mit Hilfe des transatlantischen Kriegsbündnisses kann sich Berlin das Drohpotenzial der U.S. Armed Forces zunutze machen, der mit Abstand stärksten Streitmacht der Welt.

Ausbau des „europäischen Pfeilers“ in der NATO

Vielleicht nicht immer, aber immer wieder ist die NATO nützlich im Kampf um die Realisierung deutscher Interessen – und so beteiligt sich die Bundesrepublik denn auch konsequent am Ausbau der NATO-Strukturen. Dabei konzentriert sie sich darauf, den „europäischen Pfeiler“ des Bündnisses zu stärken. Ein Beispiel: Die Bundeswehr weitet ihre seit vielen Jahren bestehende Kooperation mit den niederländischen Streitkräften im NATO-Rahmen konsequent aus. Dabei ist zuletzt unter anderem eine komplette niederländische Brigade der deutschen Division Schnelle Kräfte unterstellt worden. Rumänische und tschechische Heeresverbände folgen. Ein zweites Beispiel: Die Bundeswehr errichtet in Ulm ein NATO-Logistik-Hauptquartier, das Truppen- und Materialtransporte in Europa optimieren soll. Zu den Arbeiten am Ausbau des „europäischen Pfeilers“ der NATO hat Generalleutnant a.D. Rainer Glatz, ein früherer Befehlshaber des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr, einst erläutert, sie hätten „eine Bedeutung über die Allianz hinaus“: Sie trügen „wesentlich zur Handlungsfähigkeit der EU bei“. Berlin schlägt also zwei Fliegen mit einer Klappe.

Nato-Aktivitäten in der Asien-Pazifik-Region?

Jenseits all dieser Aktivitäten wird sich die Bundesregierung womöglich schon bald einer Frage stellen müssen, die recht weitreichende Folgen haben könnte: wie hält sie es mit einer Ausweitung der NATO-Aktivitäten in die Asien-Pazifik-Region. Den Hintergrund hat kürzlich Karl-Heinz Kamp erläutert, Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS), außen- und militärpolitisches Strategiezentrum der Bundesregierung. Kamp zufolge wird die NATO mit Blick auf den Aufstieg der Volksrepublik China in nächster Zeit diskutieren müssen, ob sie – laut dem außen- und militärpolitischen Fachblatt „Sirius“ – „einen signifikanten Beitrag zur Einhegung chinesischer Machtansprüche“ leisten will. Man darf davon ausgehen, dass Washington in seinem Konfrontationskurs gegenüber Beijing eher früher denn später darauf drängen wird, dass die NATO dies tut. Erst im August hat sich NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in der australischen Hauptstadt Canberra aufgehalten, um Australiens Kooperation mit dem transatlantischen Bündnis zu intensivieren. „Die Vorstellung, dass eine künftige NATO die Bekämpfung der Gefahren im asiatisch-pazifischen Raum als eine ihrer Kernaufgaben ansieht, mag aus heutiger Sicht für viele Bündnismitglieder unrealistisch scheinen“, räumte Kamp in seinem Zeitschriftenbeitrag ein: „Allerdings hat sich bereits in der Vergangenheit gezeigt, wie schnell sich eine internationale Lage ändern kann“. Für das deutsche Verhältnis zur NATO brächte dies einen neuen, noch ungeklärten Aspekt.

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