Deutsche ohne Bahnsteigkarte

Warum wir vom Besten, was hier je passiert ist, viel zu wenig wissen

Vor 100 Jahren – am 15. Januar 1919 – wurden in Berlin Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg von Soldaten der Garde-Kavallerie-Schützen-Division ermordet. Es waren nur zwei politische Morde im Zuge der Niederschlagung der Berliner Januarkämpfe. Im Vorfeld der 100. Jährung dieser Morde schrieb der sozialdemokratische „Vorwärts“: „Er [der sogenannte Spartakusaufstand] führt zur endgültigen Spaltung der Linken in der Weimarer Republik – und zur Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht“ – als hätte die SPD nichts damit zu tun gehabt, als wären Luxemburg und Liebknecht von Spartakisten ermordet worden. Vor wenigen Tagen hat die SPD-Parteivorsitzende Andrea Nahles eine Verantwortung der SPD für die Ermordung von Liebknecht und Luxemburg zurückgewiesen. Man kann sich fragen, was die SPD heute zu verlieren hätte, wenn sie eine Mitverantwortung eingestünde – wovon die meisten Historiker*innen inzwischen ausgehen –, und sich dafür entschuldigte. Dass sie das Gegenteil behauptet, spricht dafür, dass sich ihre heutige Führungsetage selbst mit Ebert, Noske, Scheidemann verbunden weiß.

Eine Gegenerzählung sollte nicht einzelne Ereignisse isoliert betrachten, sondern Zusammenhänge rekonstruieren. Für die Oktober/November-Ausgabe (2018) der Corax-Programmzeitung hat dies Daniel Kulla getan. Ein Interview mit Daniel Kulla findet sich – neben zahlreichen anderen Interviews zur Novemberrevolution 1918/19 – auf der Seite von Radio Corax.

Vor 100 Jahren begann im Deutschen Reich eine Revolution, die sich innerhalb von Tagen übers gesamte Land ausbreitete, von Millionen von Menschen getragen wurde und die Gesellschaftsordnung fundamental umwälzte. Frieden wurde geschlossen, der endlich den Ersten Weltkrieg beendete, der Kaiser wurde gestürzt und mit ihm die Monarchie insgesamt, Achtstundentag und Frauenwahlrecht wurden eingeführt.

Gegen das Fortschreiten der Revolution in die Tiefe der gesellschaftlichen Organisation und Verwaltung, vor allem auf das Gebiet der Eigentumsordnung und der politischen Klassenorgane der Arbeitskräfte, kam militärische Gewalt im Stile der Kolonialkriegsführung und der Partisanenbekämpfung mit den Mitteln des Weltkriegs zum Einsatz. Organisiert wurde diese bewaffnete Konterrevolution vom ersten Tag nach dem Sturz des Kaisers an durch den engsten Kreis der SPD-Parteiführung und die Oberste Heeresleitung (OHL). Um für ihr Vorhaben zuverlässige Truppen zu finden, kauften sich der SPD-Vorsitzende Friedrich Ebert und OHL-Chef Wilhelm Groener, nachdem zunächst alle der Revolution entgegengestellten Einheiten entweder übergelaufen oder schlicht heimgegangen waren, immer offener reaktionäre, völkisch-antisemitische Verbände und durch ihren Kriegseinsatz besonders brutalisierte Sturmtruppen (Flammenwerfer gegen Schützengraben usw.) als Söldner ein. Diese Freikorps waren gering an Zahl, den Revolutionären aber durch ihre schwere Bewaffnung, ihre Skrupellosigkeit und die schiere Überrumpelung dennoch überlegen.

Der SPD-Führung standen jedoch noch andere als diese Gewaltmittel zur Verfügung, um die Revolution einzudämmen, vor allem die der Täuschung und der politischen Manöver. Dem Matrosenaufstand in Kiel, der am 4. November 1918 den Startschuss für die Revolution lieferte, eilte aus dem Parteivorstand Gustav Noske entgegen, um sich an die Spitze der Bewegung zu setzen und sie dann abzuwürgen. Ganz ähnlich hatte sich Ebert bereits gegenüber dem Antikriegs-Massenstreik im Januar 1918 verhalten. Außerdem wurden taktisch politische Organe und Räte aus dem Boden gestampft, Abstimmungsmehrheiten herangekarrt, immer wieder aber vor allem behauptet, die Machteinsetzung der Räte und die Vergesellschaftung zumindest der Großbetriebe nach wie vor durchsetzen zu wollen. Das versprach Ebert, als er im Januar 1919 nach den ersten Wahlen den Reichstag eröffnete, das verkündete die Parteipresse sowohl während des bis dahin größten Massenstreiks Anfang März mit einer Million Streikenden als auch während aller folgenden Sozialisierungsbewegungen von unten, zum Teil noch bis ins Jahr 1920 hinein.

Diese Täuschung verfing nicht zuletzt, weil sich die meisten zunächst nicht vorstellen konnten, dass die Anführer einer Partei, deren einziges Parteiprogramm seit 1891 neben bürgerlich-demokratischen Rechten und Freiheiten auch den Sozialismus, also die Vergesellschaftung der Produktionsmittel forderte, sich derart vollständig und konsequent auch ihren Mitgliedern entgegenstellen würden, sobald diese das Programm in die Tat umsetzten. Auch wenn schon bald die Erkenntnis um sich griff, die Entschlossenheit und Skrupellosigkeit der Reaktion unterschätzt und ihre Vertreter in den eigenen Reihen nicht wahrgehabt zu haben, und sich die revolutionären Massen nicht zuletzt deshalb immer weiter radikalisierten, forderte der konterrevolutionäre Terror doch zu viele der besten Köpfe und wirkte zu abschreckend, verfing die Propaganda (Ruhe und Ordnung; Kein Bruderkampf) unter diesen Umständen umso mehr.

Dennoch dauerte es fast fünf Jahre, bis sämtliche Aufstands-, Sozialisierungs- und Massenstreikbewegungen niedergeschlagen waren. Erst nach diesen fünf Jahren hatte sich aus den konterrevolutionären Truppen der Nationalsozialismus als geschlossene politische Organisation entwickelt. Ebenfalls erst am Ende dieser fünf Jahre war endgültig klar, dass der neue Staat auch legal parlamentarisch an die Macht gelangte linke Regierungen (in Sachsen und Thüringen) mittels der Reichswehr wieder absetzen würde, während er den wichtigsten Rückzugsraum der Reaktion und die Haupt-Brutstätte des Faschismus, die sogenannte Ordnungszelle Bayern, weitgehend unangetastet ließ.

Diese jahrelange Beharrlichkeit, das schiere Ausmaß und die Radikalität der revolutionären Massen müsste die Frage nach der organisatorischen Vorgeschichte aufwerfen, die aber ungern gestellt wird, weil sie die liebgewonnene Erzählung von der spontan-dumpfen Revolte wegen Hunger und ›Kriegsmüdigkeit‹ erschüttert. Diese Erzählung, oft noch erweitert um das nur angeblich so allgemein formulierte Lenin-Wort von den Deutschen, die ohne Bahnsteigkarte keinen Bahnhof besetzen könnten, ist so ein Dauerbrenner, weil sie damals wie heute von Verantwortung enthebt und, so vorhanden, Gewissen erleichtert.

Für die SPD-Führung war die revolutionsunerfahrene, ›noch nicht reife‹ Volksmasse dabei, sich ahnungs-und kopflos dem in den schwärzesten Farben gemalten, als Projektionsfläche und sozialdemokratischem evil twin dienenden Bolschewismus an den Hals zu werfen. Für praktisch alle anderen linken Fraktionen war die augenfällige Spontaneität des Aufstands eine hinreichende Erklärung dafür, warum sie ihn nicht in ihrem Sinne hatten beeinflussen können – und das wischt lauter lästige Fragen danach beiseite, inwieweit es den Parteien, Gewerkschaften und sonstigen Organisationen, vor allem ihren Führungen selbst nicht gelungen war, sich zu den revolutionären Massen sinnvoll ins Verhältnis zu setzen.

Und so beliebt diese Geschichte ist, so falsch ist sie. Auch wenn die meisten Revolutionäre sicherlich von der rasenden Ausbreitung ihrer Erhebung ebenso begeistert wie überrascht gewesen sein dürften, gab es doch eine bestimmende Komponente, ohne die das Geschehen vermutlich nie über eine Massenmeuterei mit der wahrscheinlichen Folge der Abdankung des Kaisers zugunsten eines Thronfolgers hinausgekommen wäre: nämlich der ganz und gar nicht spontan und planlos entstandene enorme Grad der Organisierung der Arbeitskräfte als Klasse.

Sie hatten einerseits über Jahrzehnte beharrlich und flächendeckend riesige, viele Millionen zählende legale Organisationen aufgebaut, Partei- und Gewerkschaftsstrukturen, Arbeiterbildungsvereine, Sport- und Jugendgruppen, hatten die Emanzipationsbestrebungen der Frauen, der Juden und der Homosexuellen aufgegriffen, hatten auf dieser Grundlage die Alltagskultur, die Sprache und die Auffassungen der Gesellschaft bis hinein in den Wissenschaftsbetrieb geprägt. Über die Sozialdemokratie um die Jahrhundertwende schreibt der Historiker Ralf Hoffrogge: „Indem [sie] Klassenkampf und Universalismus verband, verhinderte sie also an vielen Fronten den Erfolg der an die Arbeiter gerichteten Propaganda der völkischen und antisemitischen Gruppen und Verbände.“ In dieser Weise stiftete sie auch ein Vorbild für viele ähnliche Organisationen in anderen Ländern, die neben den anarchistischen und syndikalistischen größten in der weltweiten Arbeiterbewegung.

Andererseits hatten sie aus der Zeit im Untergrund während der Sozialistengesetze in den 1880er Jahren, aus den Erfahrungen in anderen Ländern und aus der Realität von Militärdiktatur und Ausnahmezustand während des Weltkriegs gelernt, klandestine Strukturen zu bilden. Aus den Kneipen-Hinterzimmern, aus den informellen Betriebsversammlungen wie auch aus den spitzelfreien Räumen des Parlaments hatten sie zunächst immer größere und immer weiter ausgreifende Massenstreiks und schließlich den Aufstand organisiert, der in einer Welle von Revolutionen und Revolutionsversuchen in fast allen Industrienationen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs neben dem russischen der wohl massivste war.

„Ganz Europa ist mit dem Geist der Revolution erfüllt“, äußerte der britische Premierminister David Lloyd George 1919, „die gesamte bestehende Ordnung wird in all ihren politischen, sozialen und ökonomischen Aspekten von den Bevölkerungsmassen von einem Ende Europas bis zum anderen in Frage gestellt.“ Axel Weipert, der wie Hoffrogge an der Vervollständigung des verstümmelten Geschichtsbilds der Revolution arbeitet, schreibt in seinem Buch über die Berliner Rätebewegung von einem „Allzeithoch an Arbeiterunruhen 1919 und 1920 in der Gesamtheit der wirtschaftlich entwickelten Länder“, und nennt neben den vormaligen Mittelmächten des Ersten Weltkriegs und Russland, wo die Auseinandersetzungen am härtesten waren, die Siegermächte Italien, Großbritannien, Frankreich, die USA, Japan und Australien, aber auch neutrale Länder wie die Schweiz, Spanien und Teile Lateinamerikas.

Hätte im Moment der ausbrechenden Revolution die Auswahl an politischen Partnern für die Arbeiterbewegung nicht nur in Liebknechts (begreiflichem) Übereifer, der Verzagtheit der USPD und dem mehr oder weniger offenen Verrat der SPD bestanden, hätte sich dieses Dilemma nicht in der Folge mit den verschiedenen kommunistischen und anarchistischen Organisationen wiederholt, dann wäre es den revolutionären Massen wohl möglich gewesen, die zahlenmäßig weit unterlegene Konterrevolution zu entwaffnen und die politische Überrumpelung durch den alten Staatsapparat und die mit ihm verbundenen Teile der SPD und Gewerkschaften zumindest weiter zurückzudrängen. Die Auswirkungen auf die anderen revolutionären Schauplätze sind kaum zu ermessen. Das ist nur Spekulation, soll aber den Punkt verdeutlichen, dass die unvollendete Revolution kaum sinnvoll den Deutschen ohne Bahnsteigkarte oder den ›unreifen‹, kindlichen, schlecht organisierten Massen anzulasten ist, sondern vielmehr denen, die nicht in der Lage oder willens waren, diese Massenbewegung sinnvoll aufzugreifen und zu unterstützen; die vor ihr Angst hatten, sie abwürgen, ja niederschlagen wollten – oder sich eben an ihre Spitze setzen, was meistens hieß, sie ihrer Führung und ihrem jeweiligen dogmatischen Verständnis vom Staat zu unterwerfen.

Für heutige Versuche, diese Revolution wieder vollständiger sichtbar zu machen, ihre Kontingenz und die Tatsache der Massenselbstorganisation dem Vergessen zu entreißen, bietet sich vor allem der Umstand an, dass sie fast überall im Land stattgefunden hat – nach einem Wort von Klaus Gietinger überall, wo ein Betrieb stand – und schon die weitgehende Unsichtbarkeit von etwas bis in provinzielle Kleinstädte hinein so Mächtigem gegen die vorherrschende Geschichtserzählung gewendet werden kann. Ob das während des offiziellen Erinnerungsbetriebs um den November herum gelingt, dessen schon munitionierte Materialschlachten an Veröffentlichungen und Veranstaltungen wohl eh vom viel lauteren politischen Tagesgeschäft übertönt werden dürften, ist fraglich und liegt nun eh in der Hand derer, die ihre Interventionen schon geplant haben.

Es wird nicht nur aus Richtung der SPD und ihrer nach dem Hauptorganisator der Konterrevolution benannten Stiftung zu hören sein, dass gegen ›den Bolschewismus‹ eben nichts anderes übrig blieb, als die Freikorps zu schicken. Und das, um die zwischen 1848 und 1989 zweite Revolution für die BRD zu retten. Und so wird die auf den November reduzierte Erhebung ins Geschichtsbild eingepasst, das etwa so geht:

Ja, es ist in der Vergangenheit viel Schlimmes passiert (Krieg, Bomben, Vertreibung), auch wir haben Fehler gemacht, aber im Laufe der Zeit gab es immer mehr Bestrebungen, die wehrhafte deutsche Demokratie einzurichten (von den Befreiungskriegen über den 17. Juni 1953 bis zum Fußball-WM-Sommermärchen), die wir nun glücklicherweise haben und gegen jeden Unterminierungsversuch von Linken und Ausländern verteidigen wollen. (Die derzeit mal wieder lautstarken Abgrenzungsversuche gegen bekennende Nazis bei gleichzeitiger Hofierung des sich radikalisierenden Nationalismus passen leider gut in dieses Bild.) Wer sich einer der gegenwärtigen linken Fraktionen zugehörig fühlt, entnimmt der Revolutionsgeschichte mehr oder weniger verzerrte Ausschnitte um zu begründen, warum er eben dieser Fraktion angehört, warum alle anderen falsch liegen und warum es die vornehmste Aufgabe ist, gegen sie alle ständig und auch ungefragt aufzutreten. (Nur mit der konkreten entschlossenen Kampfpartei, die wir im Sinn haben, wäre es gegangen, aber die Leute waren noch nicht so weit; wegen der autoritären Traditionen, die hier fortgeführt wurden, musste das notwendigerweise scheitern; die Deutschen sind so, ging nicht anders; Captain Hindsight, also: es war falsch, da und da mitzumachen oder nicht mitzumachen.)

In alldem geht das meiste, das damals geschehen ist, recht vollständig unter, und vor allem gehen so viele der Lektionen verloren, die daraus bezogen werden könnten: der Aufbau der sozialen Substanz, jenseits aber nicht außerhalb von Partei und Gewerkschaft, Selbstaufklärung und Lernprozesse, der November schon überhaupt auch als Arbeiterrevolution, die konkrete Aufstandsvorbereitung usw. Revolutionen fallen fürs bürgerliche Verständnis immer vom Himmel, sind Willensakt und ein Moment statt ein Prozess. Entsprechend werden die größten Leistungen übergangen und herabgewürdigt – dass es beispielsweise einen Sinn hatte, im November in Berlin so lange mit dem Aufstand zu warten, nämlich um dann gut geplant und ausgerüstet die mächtigen Garnisonen fast gewaltfrei überrumpeln zu können.

Doch reden wir von einem Zeitraum von fünf Jahren, in dem an zahlreichen Schauplätzen immer wieder teilweise unglaubliche Ereignisse aufzurufen, zu erinnern, nachzustellen wären, was phasenweise vielleicht besser gelingen könnte als auf dem Höhepunkt der herrschaftlichen Selbstvergewisserung.

Schon für Berlin bieten sich an: der Januaraufstand, die Brutalität seiner Niederschlagung (der eben nicht nur die bekannten Luxemburg und Liebknecht zum Opfer fielen, so sehr gerade Luxemburg auch wohl die Hassfigur für die Reaktion war), der Generalstreik Anfang März 1919, die Kämpfe in Friedrichshain, die Massaker in Lichtenberg, bei denen Tausende auch Unbeteiligte von den Freikorps hingeschlachtet wurden und erstmals jemand von einer Fliegerbombe getötet wurde. Sachsen war historisch eine der Hochburgen der Arbeiterbewegung, Gründungsort der sozialistischen Arbeiterparteien, im Krieg Schauplatz von Streiks. Im Zuge der Revolution waren vor allem Leipzig und Chemnitz immer wieder frühe Vorreiter der Entwicklungen, die Chemnitzer KPD organisierte während des Kapp-Putsches 1920 die Neuwahl und Wiederbewaffnung der Räte. Aus Dresden wurde am 14. November 1918 in der vielleicht radikalsten Regierungserklärung der deutschen Geschichte der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus und die schnellstmögliche Vergesellschaftung verkündet. Nicht nur München, sondern große Teile Bayerns waren von der Räterepublik erfasst (Klaus Gietinger schreibt von der Hälfte der bayerischen Städte). Braunschweig konstituierte sich selbst als Sozialistische Republik, in deren Rat der Volkskommissare mit Minna Faßhauer die erste Ministerin in Deutschland vertreten war. Neben Hamburg waren auch die meisten anderen Hafenstädte Hauptschauplätze, nicht nur Bremen mit seiner Räterepublik, auch Rostock, das in den Märzkämpfen 1921 nochmals aufflammte. Jena, wo die Freikorps verjagt wurden, weshalb sich die Nationalversammlung, von ihnen geschützt, in Weimar treffen musste. Das Ruhrgebiet für den gesamten Zeitraum, vor allem als Schauplatz der entschlossensten Sozialisierungsbewegung von unten, aber auch am stärksten selbstorganisiert, wobei die geförderten Feindseligkeiten zwischen katholischen Arbeitsmigranten aus Polen und den protestantischen Deutschen überwunden wurden. Die schlesischen Industriegebiete. Für eine gern unterschlagene lange Phase der besonderen massenhaften Radikalisierung bis hin zu einer weiteren revolutionären Welle 1921, verknüpft mit dem Namen Max Hoelz: das Vogtland, das Mansfelder Land und das Industriegebiet Halle-Leuna-Merseburg.

Noch 1923 gibt’s ein letztes Mal linke Regierungen in Thüringen und Sachsen, und einen wenn auch recht verzweifelten Aufstandsversuch in Hamburg (auch wenn es der nun federführenden KPD nicht mehr darum ging, die Arbeitskräfte und ihre Räte selbst an die Macht zu bringen, sondern sich selbst als Kaderpartei nach sowjetischem Vorbild – in gewisser Weise hatten fünf Jahre Konterrevolution endlich den Gegner erzeugt, dem sich die ganze Zeit gegenüber gesehen wurde). Und auf diese Schlusspunkte auf der parlamentarischen wie auf der Ebene des bewaffneten Aufstands gegen die Konterrevolution und ihre Gewalt sollte auch bis zuletzt hingewiesen werden.

Die Revolution, die von Marx und Engels vorhergesagt worden war, hat entgegen der häufigen Behauptung also stattgefunden, war nur nicht im Ganzen siegreich. Die Deutschen ohne Bahnsteigkarte scheiterten an den ersten Nazis, die von der nominalen Revolutionsregierung gegen sie entsandt wurden. Darauf sollte verwiesen werden, wenn heute wieder die Rede davon ist, wie es angeblich anfing damals. Es wurde danach so schlimm, weil es vorher gerade so gut gewesen war und noch besser hätte werden können; es war das bekannte Ausmaß an faschistischem Terror und nationalsozialistischem Mimikry nötig, um diese Massenerhebung niederzuschlagen, niederzuhalten und umzulenken. Heute ist an all das zu erinnern, vor allem aber an die soziale Substanz, also den selbstorganisierten Zusammenschluss der Arbeitskräfte, die es nach wie vor wieder zu bilden gilt.

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