Der Superlativ des Gemüses

Eine Polemik über helle Stangen und ihre finsteren Erntebedingungen

SPARGEL! Jedes Frühjahr aufs Neue schlagen sich abenteuerlustige Lokaljournalist*innen durch die Äcker in Baden, Franken, im Münsterland oder Beelitz, um eine*n echte*n Spargelbäuerin*bauern dabei zu fotografieren, wie sie*er bemüht in braunen Dämmen wühlt und den ersten Spargelstich prophezeit. Und prompt schlagen die Kartoffelherzen in der Republik höher. Ein Glück, soll der kahle Stängel laut „ältestem chinesischen Heilpflanzenbuch“ (wikipedia.org) doch gegen Herzklopfen helfen. Aber was sucht die preußische Superstange eigentlich in einem antiken, fernöstlichen Medizinbuch? Hat der Deutschen liebstes Gemüse etwa Migrationshintergrund? Diejenigen, die sich jedes Jahr auf „unseren“ Spargelfeldern abschuften, jedenfalls schon. Es wird Zeit an dem butterigen Glanzlack des deutschen Gemüseschlagers zu kratzen und die Arbeitsbedingungen von Saisonarbeiter*innen in Sachsen-Anhalt unter die Lupe zu nehmen.

Für wen der Gedanke schmerzlich ist, nach der Kartoffel (die bekanntlich aus den Anden kommt), nun auch noch den Spargel aus dem teutonischen Identitätsinventar streichen zu müssen, die*der sollte vermutlich nicht zu tief in der Europäischen Spargel-Fachbibliothek des Europäischen Spargelmuseums in Schrobenhausen (Bayern) schürfen. Ja, gegen Chinas 8,3 mio Tonnen jährlicher Spargelproduktion verblassen die bundesweiten 130.000 Tonnen geradezu. Auch der beliebten „Deutschland-ist-Spargelweltmeister“-Rhetorik wird vom Welt-Spargel-Bericht die Spitze gekappt: Deutschland landet beim Pro-Kopf-Verzehr leider nur auf Platz 3 nach China und Peru.

Und dann gibt es noch diese unbequeme Frage, wie viel deutsche Eigenleistung eigentlich in der heimischen Produktion des selbsterklärten Weltmeisters steckt? Denn Spargel ist unter den Gemüsen nicht nur die Speerspitze hinsichtlich schmalzig aufgewärmter Zeitungsartikeln, sondern auch beim Bedarf von Arbeitskraftstunden pro Hektar. Ein Hektar Spargelfeld (das sind 100m mal 100m) benötigt ganze 1.300 Arbeitskraftstunden (AKh/ha) pro Jahr. Uff! Wenn man das mit den ca. 22.000 Hektar Anbaufläche in der Spargelrepublik multipliziert, fragt sich die*der Transit-Leser*in, wo man denn so viel Life herbekommen soll, um diese Work auszubalancen?! Dank der Lokaljournalist*innen, die hin und wieder ihre Kameras auch auf das emsige Ackerpersonal halten, kennen wir die Antwort: Früher aus Polen, heute aus Rumänien und dank brandneuem Dritt-Staaten-Abkommen morgen auch aus Georgien. Wie viel deutscher Edelschweiß dann wirklich im Edelweiß steckt, verrät uns ein Kostenrechner des Landwirtschaftsministeriums Sachsen: „Arbeitszeitbedarf eigen: 148,0 AKh/ha; Arbeitszeitbedarf Saisonarbeit: 1.144,0 AKh/ha“. Da ist es nicht überraschend, dass jedes Jahr ca. 300.000 Saisonarbeiter*innen in die Republik pilgern müssen, um „deutsches“ Gemüse und Obst zu produzieren.
Leider erfahren die aber nicht so viel Wertschätzung, wie die Kaisersproßen selbst, geschweige denn, wie heimische Pickelhauben, die im Frühjahr 2020 in den hiesigen Spargelgräben stationiert wurden, nach dem sie aus ihren Mindestlohnjobs in Kurzarbeit geschickt wurden. Über das Portal daslandhilft.de sollten #Erntehelden beweisen, wie echter deutscher Spargel gestochen wird und die Nation vor einer Spargelhungersnot bewahren. Die Aktion wurde ein peinlicher Flopp, da die Spargelpreise in die Höhe schossen ob der Langsamkeit unserer Landsleute. „Alle Versuche mit Deutschen auf dem Spargelfeld seien gescheitert, berichtet Landwirt Jakobs“ in der Tagesschau. Die Presse hat es ihnen verziehen und sie trotzdem in den Spargeladel erhoben.

Nun mussten aber rasch die von Natur aus fleißigen und schnellen Saisonarbeiter*innen mitten in der Pandemie eingeflogen werden, denen dafür aber keine heroischen Videos gebührten. In dem überhaupt sehr guten Jahresbericht 2020 der „Initiative Faire Landarbeit“ bringt Kiva Drexel die Berichterstattung über Spargel und Saisonarbeiter*innen so auf den Punkt: „Während die Erntehelfer*innen als physisch widerstandsfähige Arbeitskräfte dargestellt werden, gilt die empathische Sorge der weißen Stange.“ Ja, unsere Vorstellung von Saisonarbeiter*innen erinnert manchmal ein wenig an Heinzelmännchen: unsichtbare, hart und gerne schuftende Wesen, die die Drecksarbeit machen, auf die wir selbst keinen Bock haben. Und so werden sie von Politik und Agrar-Lobby auch behandelt. Arbeitsschutz, Sozial- und Krankenversicherung, Rente, Mindestlohn, transparente Arbeitsverträge, Arbeitszeitprotokolle, angemessene Unterkünfte und sanitäre Einrichtungen, Kündigungsschutz: alles Schnickschnack, den die fleißigen Acker-Heinzelmännchen gar nicht nötig haben, denn die seien ja schließlich froh über den einfachen Zuverdienst.

Die lange Geschichte der Landarbeiter*innenbewegung und auch der tägliche Kampf von Saisonarbeiter*innen um faire Löhne und Arbeitsbedingungen werden einfach in Sauce Hollandaise ertränkt. Seit letztem Jahr ist es aber gelungen, die ausbeuterischen Verhältnisse, die sich durch die COVID19-Pandemie noch einmal zugespitzt haben, in die Öffentlichkeit zu tragen. Das ist nicht zuletzt der harten und langjährigen Arbeit von Aktivist*innen, Gewerkschafter*innen, Berater*innen und Arbeiter*innen zu verdanken. Vor allem, die durch die FAU unterstützten Spargel-Ritter Streiks in Bornheim haben Syndikalist*innen-Augen 2020 leuchten lassen.
Irgendwie scheint es aber, als ob all das eher außerhalb von Sachsen-Anhalt passiert. Wie sieht der Spargelanbau und die Situation der Saisonarbeiter*innen denn zwischen Zeitz und Salzwedel aus?

Wie eigentlich die meisten Dinge in Sachsen-Anhalt, genießen auch die hiesigen Spargelfelder keine besondere Berühmtheit, anders als etwa die benachbarten Popstars aus Beelitz (s. Titelbild). Auf nur 546 Hektar wurde der Gemüse-Nimbus 2019 im Land gehegt. Der meiste Spargel wird im Jerichower Land und in Stendal gestochen. Allerdings gab es auch Zeiten, in denen ein Sachsen-Anhaltiner Vorreiter des Spargelanbaus war. Der berühmte Spargelzüchter August Huchel gründete vor beinah 100 Jahren die Deutsche Spargelhochzuchtgesellschaft Osterburg/Altmark und züchtete ausgehend von der Sorte „Ruhm von Braunschweig“ die bessere „Huchels Leistungsauslese“, die bis heute erwerbbar ist. Leider stand der Spargel nicht besonders in der Gunst der DDR-Führung und war in den Anbauplänen der LPGs kaum zu finden. Selbst die Promis aus Beelitz durften nur auf ca. 15 Hektar weiter ackern. Das lag vor allem daran, dass die nötige wo*manpower für 1.300 AKh pro Hektar und Jahr fehlte. Und dann bringt der Spargel ja nicht mal wirklich Kalorien oder irgendetwas anderes Nützliches für das Volk auf die Waage. Neben ein wenig Vitamin C, Kalium und übelriechenden Schwefelsubstanzen besteht er eigentlich nur aus Wasser. Eine Tatsache, die uns auch heute nachdenklich machen sollte: Warum genau nochmal werden die Gesundheit und die Leben von zehntausenden Saisonarbeiter*innen aufs Spiel gesetzt für einen Magerstengel, dem man beim besten Willen keine Systemrelevanz andichten kann?

Nun gut, wie sieht denn die Situation der etwa 7.000 nach Sachsen-Anhalt kommenden Saisonarbeiter*innen eigentlich aus? Meine Anfrage dazu an das Ministerium für Arbeit, Soziales und Integration blieb unbeantwortet, und das Landwirtschaftsministerium fühlte sich nicht zuständig. Kerstin Eisenreich, Sprecherin für Landwirtschaft für DIE LINKE-Fraktion im Landtag, dazu: „Eigentlich wissen wir so gut wie nichts über die Situation der Saisonarbeiter*innen hier im Land.“ Sie hat letztes Jahr eine Selbstbefassung zu dem Thema im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten beantragt. Passiert sei aber wenig. Der Staatssekretär Ralf-Peter Weber hatte darin eine Umfrage des Sozialministeriums bei den Betrieben angekündigt. Ergebnisse gebe es jedoch keine.
„Ein riesiges Problem ist die mangelnde Überprüfung der Betriebe und das Nachvollziehen von Verstößen. Das interessiert kaum jemanden und das hat System. Durch die Ausweitung der kurzfristigen Beschäftigung auf 115 Tage, wurde auch die Befugnis des Zolls aufgeweicht. Die Verbraucherzentralen müssten den Arbeitsschutz kontrollieren, die Gesundheitsämter die Hygieneauflagen und die Gemeinden sind für die Wohnsituation zuständig, z.B. ob wirklich 8m2 pro Person zur Verfügung stehen. Aber bei allen fehlen sowohl die Ressourcen, als auch der Wille die Kontrollen durchzuführen und die Gesetze umzusetzen. Und das wissen die Landwirte durchaus. Keiner kontrolliert sie. Deshalb wissen wir auch nicht, wo es die schwarzen Schafe im Land gibt. Die Arbeiter werden hier komplett allein gelassen. Denn sie selbst haben kaum eine Möglichkeit, Verstöße zu melden. Wo sollen sie denn die nötigen Informationen herbekommen? Deshalb tendieren die Anzeigen gegen null und die Strafen sind viel zu milde,“ sagt Eisenreich.

Auch die Fachstelle Beratung migrantischer Arbeitskräfte (BemA) in Sachsen-Anhalt hat nicht genügend Informationen, um ein Gesamtbild zu zeichnen. Im vergangenen Jahr seien ca. 900 Einzelpersonen durch die Fachstelle beraten worden. „Der Schwerpunkt unserer Arbeit liegt in der Fleischindustrie, nur ca. 5% unserer Fälle sind in der Landwirtschaft. Das liegt vor allem an der schwierigen Erreichbarkeit der Arbeiter in dem Bereich. Sie werden von den Unterkünften direkt auf die Felder gefahren und haben wenig Kontakt zur Außenwelt,“ sagt Anne Hafenstein von BemA. Es gebe jedoch immer wieder Fälle von schwerwiegenden arbeitsrechtlichen Verstößen, betont Hafenstein: „Ein riesiges Problem waren kurzfristige Kündigungen, was häufig zu Obdachlosigkeit der Betroffenen geführt hat. Und das während der Pandemie! Außerdem gab es immer wieder Beschwerden wegen zu langer Arbeitszeiten. Auch die Arbeitsschutz-Richtlinien der Berufsgenossenschaft und die Hygienemaßnahmen wurden missachtet.“

Ein besonderes Problem sei die Aneinanderreihung von kurzfristigen Beschäftigungen bei mehreren Arbeitgeber*innen, wodurch die Arbeiter*innen in einer permanent prekären Situation gehalten würden, ohne jegliche Sozialstandards.

Aufgrund fehlender Krankenversicherung im Inland und unklarer Versicherung im Heimatland, hätten viele Arbeiter*innen keinen Zugang zu einer regulären Behandlung. Und nochmal: Das während einer Pandemie!

„Die wichtigsten Maßnahmen wären eine breitere und vor allem mehrsprachige Beratungs- und Unterstützungsstruktur. Und zwar nicht nur arbeitsrechtlich, sondern auch ganz lebensweltlich,“ betont Hafenstein. Der Zugang zu den Arbeiter*innen sei der wichtigste Erfolgsfaktor für die Beratung. Häufig würden die Informationen vor allem Mund-zu-Mund und über Facebook-Gruppen verbreitet. Auch die Behörden seien hier in der Pflicht. Sie bräuchten dringend einfachere und mehrsprachige Anzeigemöglichkeiten. Dabei seien nicht immer Polizei oder Zoll die beste Option, da die Arbeiter*innen häufig große Skepsis vor diesen Behörden hätten. „Es gibt zahlreiche Menschen, die ihre Situation gerne anzeigen würden, aber nicht wissen wie. Die Strukturen dafür müssen sich ändern.“ Zudem hätten die Arbeiter*innen meist das grundsätzliche Bedürfnis, keinen Ärger zu bekommen und einfach ihrer Arbeit nachzugehen. „Die Leute, die sich bei uns melden, bei denen ist es meistens schon zu spät. Die haben nichts mehr zu verlieren. Da geht es meistens darum, überhaupt ihren ausstehenden Lohn zu bekommen. Die haben dann auch eine höhere Bereitschaft, etwas zu tun,“ sagt Hafenstein. Mit Blick auf die Gesellschaft, müsse sich hier eine lebensweltliche Unterstützungskultur etablieren. Die gesellschaftliche Isolation der Arbeiter*innen könne man nur ändern, wenn man sie vor Ort anspreche.

Bei aller Notwendigkeit von lokaler Intervention, hat das Problem natürlich eine strukturelle Wurzel. Kerstin Eisenreich betont, dass die Landesregierung es über Jahrzehnte versäumt habe, lokale Vermarktungsstrukturen zu fördern, durch die die Preismacht der Handelskonzerne geschwächt worden wäre. So gäben die Landwirte den Preisdruck einfach nach unten weiter. Und auch bei der 102-Tage-Regelung sind sich Eisenreich und Hafenstein einig, dass diese revidiert werden müsste.
Ja, tatsächlich könnte man den schmutzigen Deal von Julia Klöckner, der SPD und dem Bauernverband, der in einer Novelle des Seefischereigesetzes versteckt wurde, als ein gerissenes Lehrstück transnationaler Klassenpolitik bezeichnen. Das Gesetz hat die sogenannte ‚kurzfristige Beschäftigung‘ ohne Anspruch auf Sozialleistungen, auf 102 Tage ausgeweitet und die angekündigte Krankenversicherungspflicht klammheimlich auf 2022 gestundet. Dabei ist allen Beteiligten klar, dass die Beschäftigungsverhältnisse von Saisonarbeiter*innen noch nie einer kurzfristigen Beschäftigung im eigentlichen Sinn entsprochen haben, und die Änderung auch weitreichende Konsequenzen für Beschäftigte in anderen Branchen hat. Dass es der Politik einzig darum geht weiterhin eine ausbeutbare migrantische Reservearmee bereitzustellen, zeigt auch das neue Abkommen zwischen der BRD und Georgien. 2021 dürfen erstmals 5.000 Nicht-Europäische Saisonarbeiter*innen durch die Anwendung der EU-Richtlinie zu Saisonarbeitskräften (2014/36/EU) ins Land kommen. Denn laut einem Bericht des BAMFs hätten EU-Bürger*innen aus Polen und Rumänien immer weniger Lust sich auf deutschen Feldern knechten zu lassen, und deshalb seien Abkommen mit Nicht-EU-Staaten notwendig und zukunftsweisend. Das freut auch den bereits erwähnten Bauer Jakobs in der Tagesschau: „Wenn er den Rumänen die Flüge nicht gezahlt hätte, wären sie zu Hause geblieben, vermutet er. Das Risiko wollte er nicht eingehen. Die Georgier dagegen, die in den kommenden Tagen ins Flugzeug nach Deutschland steigen, sind da anspruchsloser: Sie bezahlen ihre Flüge selber.“

Die Bundesregierung tut also weiterhin ihr Bestes um deutsche Äcker arbeitsrechtsfrei zu halten. Die Auswirkungen dieser Politik zeigen sich auch dieses Jahr schon: Aktuell macht der Spargelbetrieb Thiermann im Niedersächsischen Kirchdorf mit einem massiven COVID19-Ausbruch Schlagzeilen. Die über 1000 betroffenen Arbeiter*innen wurden in Arbeitsquarantäne gesteckt und werden rund um die Uhr von einem Sicherheitsdienst bewacht. Außerdem dürfen Ehepaare sich nicht sehen (weil Geschlechtertrennung ja notwendig ist während der Pandemie), die Gesundheitsversorgung der Erkrankten ist unklar, und Leute, die widerständig trotzdem einkaufen gehen, werden von der Lokalbevölkerung denunziert.

Lass schmecken Deutschland, du #MiesesStückSpargel!

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Bildtitel: ADN-ZB Die Spargelernte in der Mark [Brandenburg]
Überblick auf die grossen Bselitzer Spargelplantagen. Bei Morgengrauen beginnt die Arbeit auf den Feldern. Aufn.: vor 1945 [Scherl Bilderdienst]
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