Der Aufbruch ins Nichts
Die Sterntagebücher nach Stanislaw Lem von Hans-Jochen Menzel auf der Bühne des WUK-Theaters
von Hauke Heidenreich | veröffentlicht am 01.07 2023
Beitragsbild: © Anna Kolata | Bühnen Halle
Lems Sterntagebücher gehören, wie auch andere Bücher des Autors, zu den Klassikern der Science-Fiction-Literatur. Sie wurden, ob ihrer absurden Themen und ihres noch absurderen Protagonisten, oft als Münchhausen-Geschichten im Weltall beschrieben. Doch sind sie vor allem ein Beispiel dafür, wie das Genre Science-Fiction in der Lage sein kann, sowohl existenzielle wie auch gesellschaftliche Fragen zu verhandeln. Wie die Inszenierung von Hans-Jochen Menzel damit umgeht, behandelt dieser Essay.
Ein Theaterstück ohne Raumschiffe zu machen ist möglich, aber sinnlos. Denn ist nicht genau das die Aufgabe eines Theaterstückes? Das Publikum aus der Realität hinauszuführen und in Räume vorstoßen zu lassen, die die Realität verstellt? Oder, wie ich an anderer Stelle geschrieben habe: die Realität an der Utopie scheitern zu lassen? Und das ist aber auch das, wofür wiederum ein Raumschiff vor allem steht. Den Boden unter den Füßen verlieren und in das Unbekannte vorstoßen, das „nie ein Mensch zuvor gesehen hat“. Das Theater hat es nicht mit der Realität zu tun, sondern mit ihren Grenzen. Es schreitet dort ein oder denkt dort weiter, wo die Realität das Denken darüber, wie es sein könnte oder müsste, verbietet. Sie träumt an den Luftschlössern, die bisher nicht betreten wurden und da kann ein Theaterstück eigentlich nur in einem Raumschiff stattfinden. Wie sollten diese Orte sonst erreicht werden?
Einsamkeit
Doch zuallererst ist die Fahrt ins All, wie das Stück bereits zu Anfang unumwunden einräumen muss, eine ziemlich langweilige Geschichte. Man kann das jahrelange Sitzen in einer Raumrakete, wie es dem Protagonisten von Stanislaw Lems Sterntagebüchern, dem Raumfahrer Ivon Tichy, öfter passiert, durchaus mit dem Verweilen in einer Kleingartenanlage vergleichen, wie das auf der Bühne passiert. Immer die gleiche Routine, Langeweile, absurde Tätigkeiten zum Zeitvertreib, genervte Sprüche von denen, die im selben Schiff eingesperrt sind, in diesem Fall von Tichys sprechendem Logbuch. Man sitzt in seinem Stuhl und schlürft am Dosenbier. Das hätte man sich nach Jean-Luc Picard sicher anders vorgestellt.
Und diese Langeweile muss nun irgendwie so erzählt werden, dass die Langeweile plötzlich als Abenteuer erscheint. Das gelingt der Inszenierung. Das Abenteuer besteht zuerst darin, die Reise überhaupt anzutreten. Aufbruch ins All ist keine romantische Seefahrt, sondern Hektik, wie der Protagonist Tichy schnell feststellen muss. Das ruhige Leben wird beendet, plötzlich ist der Raumfahrer innerhalb eines Strudels aus Sicherheitsroutinen, Befehlsketten und Raketenstarts eingeschlossen. Die Fahrt geht los und der sichtlich deplatziert wirkende Tichy muss erst einmal mit seinem Logbuch kommunizieren, das sich als Leonardo da Vinci entpuppt, wo denn die Reise überhaupt hingeht.
Dass die Langeweile sich in ein Abenteuer verwandelt, hängt auch damit zusammen, dass der Weltraum, in den Tichy aufbricht, ein lebensfeindlicher Ort ist. In den Weltraum fahren bedeutet nicht, auf hohe See zu gehen, sondern in ein wirkliches Unbekanntes vorzustoßen. Und, wenn man sich einmal dorthin auf dem Weg macht, braucht es dazu einen triftigen Grund.
Das Ziel der Reise
Tichy sucht Professorin Tarantoga. Genauer gesagt, sucht er nach ihrem Herz, nach ihrer Liebe. Nicht zufällig wird Neil Youngs „Heart of Gold“ dazu in der Inszenierung gespielt. In Neil Youngs Stück geht es um einen Bergarbeiter und einen Seefahrer, die das Herz aus Gold suchen und dazu eine gefährliche Reise auf sich nehmen, die ihr ganzes Leben dauert. Und am Ende lässt der Liedtext offen, ob sie es je finden, ob es überhaupt existiert oder ob es etwas ist, das sie in sich selbst suchen müssen.
Auch bei Raumfahrer Ivon Tichy bleibt das offen. Denn, als er Tarantoga erreicht, ist es durchaus nicht so, dass sie, beeindruckt von seiner Leistung, ihm sofort vollumfänglich ihre Liebe gesteht, im Gegenteil. Ein Herz aus Gold muss verdient werden und zudem ist die Zivilisation so verdorben, dass sie einen Neustart braucht. Also erteilt Tarantoga Tichy den Auftrag, das „Schöpfungselektron“ zu finden, um das Weltall vor einem Rückfall ins „Nichts“ zu bewahren. Die Charakterisierung von Ivon Tichy ist in der Inszenierung sehr gelungen. In den Originaltexten von Lem tritt Tichy oft als ziemlicher Macho auf. Jetzt aber ist er ein unsicherer, die Liebe suchender, vom Weltraum gnadenlos überforderter Mensch, der viel Schwäche zeigt und eingesteht.
Auf der Suche nach dem Schöpfungselektron reist Tichy nun also von Planet zu Planet. Er gerät in Zeitschleifen, in denen er das Raumschiff plötzlich mit lauter Versionen seiner selbst teilen muss (mit sich selbst konfrontiert zu werden, ist gerade in einem engen Raumschiff, aber nicht nur da, äußerst unangenehm). Er trifft auf eine Zivilisation, deren gesamte Wirtschaft darauf beruht, ein riesiges Monster zu füttern. Dann landet er auf einem Planeten, der scheinbar von Robotern mit ihrem Schiff „Gottesgabe“ kolonisiert wurde und auf dem Menschen unerwünscht sind, um dann herauszufinden, dass die Roboter nur verkleidete Menschen sind. Zudem muss Tichy die Menschheit vor der Organisation der Vereinten Planeten vertreten. Dies alles wird im Geiste einer Slapstickkomödie durchgeackert, so dass Tichy am Ende des Stücks völlig verwirrt und außer Atem ist und sich fragt: was sollte das alles eigentlich?
Die ignorierte Blickachse, oder: Warum heißt das Raumschiff „Gottesgabe“?
Es gibt eine Blickachse, die die Inszenierung die ganze Zeit konsequent umschifft. Spätestens bei der Szene, wo Tichy auf dem Roboterplaneten landet und vom Schiff „Gottesgabe“ hört, stellt sich die Frage, wovon Stanislaw Lems Sterntagebücher eigentlich handeln? Gibt es einen dahinterliegenden plot, der die einzelnen Geschichten verbindet, oder sind die Geschichten nur reine Slapsticks, die zufällig aneinandergereiht und durcheinander gewürfelt werden? Die Inszenierung hat als dahinterliegende Handlung die Suche nach dem Schöpfungselektron und dem Herz aus Gold Tarantogas. Dies wird als rein profanes Abenteuer dargestellt, das Tichy aus dem langweiligen Dasein in der Gartensparte bei Dosenbier erlöst, in der er anfangs saß. Weil ich nichts Besseres zu tun habe, steige ich eben in eine Rakete.
Gut, doch warum heißt das Raumschiff, mit dem die Roboter auf den Planeten kamen, eigentlich „Gottesgabe“? Warum sucht Tichy ein „Schöpfungselektron“? Was hat es mit dem Pulsarstern auf sich, der öfter im Stück erwähnt wird, dessen Licht sich ähnlich wie das eines rotierenden Leuchtturms verhält. Und was ist das Herz aus Gold? Es ist offensichtlich, dass theologische Themen ein wiederkehrendes Motiv in den Sterntagebüchern sind. Man kann durchaus kritisch die Rückfrage an Lem stellen, ob es nötig ist, die existenziellen Fragen, die sich im Angesicht des ultimativ Unbekannten, eben des Universums, aufdrängen, mit theologischen Begriffen zu verhandeln. Doch Lem hat sich dafür entschieden, dies genau so zu tun und es ist merkwürdig, dass die Inszenierung das ignoriert. Es wäre möglich gewesen, die theologischen Dimensionen zu kritisieren oder parodistisch zu bearbeiten, doch nichts davon passiert. Das Thema findet schlicht und einfach nicht statt, obwohl es ständig an zentralen Stellen der Sterntagebücher auftaucht. Stattdessen ist das Stück eine Aneinanderreihung von Gags, die ich zu Beginn der Aufführung sehr lustig fand, die aber spätestens nach der Pause beginnen langweilig zu werden. Zur Existenzfrage hat die Inszenierung meines Erachtens nichts zu sagen. Die Betrachtung bleibt an der Oberfläche, referiert auf der Ebene der Ereignisse, die über Ivon Tichy hereinbrechen, und unterlässt es, diese Ereignisse auf ihren existentiellen Charakter hin zu befragen. Neil Youngs „Heart of Gold“ bleibt ein einfacher Pop-Hit (und eben nicht der Name des Raumschiffs aus „Per Anhalter durch die Galaxis“), die „Gottesgabe“ ist ein Haufen verrückter Verwaltungsangestellter, der Pulsarstern ein reines Flutlicht für die Slapsticks.
Anhand dieser ignorierten Blickachse (Gottesgabe, Schöpfung, Leuchtturm, Herz aus Gold), die man den theologischen Leitfaden von Tichys Reisen nennen könnte, lässt sich Tichys Reise, um Tarantogas Herz zu erobern, aber ebenso mühelos als eine spirituelle Suche dekodieren. Und diese würde auch zu der Neucharakterisierung Tichy als eines unsicheren, überforderten Menschen passen. In dieser Suche ginge es nicht mehr darum, eine Frau zu erobern oder einen Gegenstand zu suchen, sondern darum, im Angesicht des Unbekannten, das eben dadurch ständig auch absurd sein muss, die existenziellen Fragen zu stellen. Wer bin ich? Und wozu bin ich hier? Dazu hätte die Inszenierung den Mut zu einer gewissen Ernsthaftigkeit haben müssen. Denn diese Fragen sind Fragen, die sich alle im Publikum stellen und weswegen sie ins Theater gehen. Diese Fragen nicht zuzulassen, ist eine Leerstelle.
Die Suche nach dem Ursprung
Was ist der Sinn des Lebens. Das oben schon benannte Raumschiff Herz aus Gold aus „Per Anhalter durch die Galaxis“ befindet sich auf der Suche nach diesem Sinn ebenfalls auf einer Reise durch das Absurde. Denn das Absurde besteht darin, dass die Antwort auf die Frage nach dem Sinn bereits von Deep Thought, dem Großrechner, errechnet worden ist: 42. Douglas Adams, der Autor, dreht die Sache also um: wer nicht lernt, Fragen zu stellen, wird mit der Antwort, die man findet, nicht viel anfangen können. Darin besteht das Absurde und Lustige dieser Geschichte. Doch trotz des offensichtlich absurden Stoffs ist die Geschichte auf eine wirklich berührende Weise sehr ernst. Denn die Leute auf dem Raumschiff werden mit Situationen konfrontiert, mit denen sie kaum umgehen können, bis zu dem Augenblick echter Verzweiflung, in dem sie erkennen, dass es die Antwort schon gibt und sie damit nichts anfangen können.
Tichy sucht zwei Dinge: das Herz aus Gold von Tarantoga und das Schöpfungselektron. Es würde zuerst einmal im Fahrwasser von Neil Youngs Text bedeuten, dass er schwört, sein ganzes Leben lang danach zu suchen, wenn es sein muss. Allein dies ist tragisch und komisch zugleich. Die Romantik einer ewigen Reise zur Liebe gepaart mit der Angst vor dem Scheitern. Und dann aber kommt durch die Referenz auf das Raumschiff Herz aus Gold auch noch ein zweites Element hinzu, nämlich die furchteinflößende Ahnung darum, dass am Ende der Reise womöglich keine neue Erkenntnis steht, sondern nur etwas Altbekanntes.
Das Schöpfungselektron wiederum verweist auf den Ursprung des Universums, den es zu reparieren gilt. Um den Ursprung zu erreichen, muss Tichy ins Unbekannte vorstoßen und sich dem Universum stellen, das er reparieren möchte. Er muss dieses Universum in all seinen Absurditäten und Schrecknissen kennenlernen, um zu verstehen, was insbesondere auf der Erde falsch läuft und wie der Ursprung geändert werden muss, um das in den Griff zu bekommen. Die neue Charakterisierung Tichys, die bereits oben angesprochen wurde, wäre die perfekte Basis gewesen, genau diese Themen noch einmal intensiv zu verhandeln.
Wie man die großen Fragen um(raum)schifft
Die Sterntagebücher von Stanislaw Lem verhandeln das Existenzielle. Und sie tun dies auf die Art und Weise, den Hauptcharakter immer wieder absurden Situationen auszusetzen, denen er mit der menschlichen Vernunft nicht beizukommen mag und die genau aus diesem Grund mit theologischen Begriffen gefasst werden müssen; um zu illustrieren, dass hier Begebenheiten erlebt werden, die man mit menschlicher Vernunft nicht fassen kann. Sinnbildlich ist hierfür die beste Szene des Stücks, als Tichy die Aufnahme der Erde in die Vereinten Planeten erwirken muss und dabei bemerkt, dass die fleischfressende und kriegführende Menschheit, die sich selbst als das Maß aller Dinge erklärt, den anderen galaktischen Völkern rettungslos hinterher ist.
Dass Ivon Tichy ständig in diese absurden Situationen gerät, verhandelt auf der humoristischen Ebene den Stoff, den ein anderes Buch von Stanislaw Len auf ernste Weise behandelt: Solaris. Wenn wir in den Weltraum fliegen, dann begegnen wir einem Unbekannten, das uns prinzipiell feindlich eingestellt ist: keine Atemluft, extreme Temperaturen, Strahlung, Meteoriten und bereits in Erdnähe Wrackteile unserer eigenen Aufbrüche ins Unbekannte. Dies sind keine Fragen, die uns laut loslachen lassen, sondern sie betreffen unsere ureigene Existenz. Gerade dadurch, dass der Weltraum völlig leer ist, stellt sich eben die Frage nach dem Sinn der Existenz. Denn wir leben auf einem Planeten, der im Nichts treibt. Unsere gesamte Lebensgrundlage basiert auf Nichts. Die Geschichten der Sterntagebücher stellen also immer wieder aus verschiedenen Blickwinkeln die Existenzfrage. Und sie tun dies auf durchaus theologische Weise: etwa das oben schon erwähnte Sternenschiff „Gottesgabe“.
Alles nur ein Traum?
Am Ende erwacht Ivon Tichy aus einem Traum. Er sitzt wieder in der Kleingartenanlage und muss erkennen, dass das Ende seiner Suche nach Tarantoga erfolglos war. Nur Mundharmonika spielen kann er jetzt besser. Das Stück endet praktisch da, wo es anfing. Die Reise Tichys hatte letztlich keinen Effekt. Trotz langer zurückgelegter Strecken und absurdester Begegnungen hat sich für den Raumfahrer nichts geändert. Selbst, wenn es nur ein Traum gewesen sein mag, auch diesem wird keine wirklichkeitsverändernde Kraft gelassen.
Die Inszenierung der Sterntagebücher ist eine Inszenierung mit Raumschiff ohne Raumschiff. Die Lektion, die das Stück erteilt, ist bitter: auch die schnellste Rakete kann letztlich nichts daran ändern, wie die Realität ist. Nimm sie an. Wie auch im Goldenen Drachen bietet das Theater keinen wirklichen Ausweg, nicht mal im Traum. Und dies ist umso schlimmer, als diesmal ein Raumschiff zur Verfügung steht, das die Grille und der junge Mann aus China nicht hatten. Warum wird hier die Chance vertan? Weil die Inszenierung die dahinterliegende Dimension der Sterntagebücher ausblendet und diese als reine Slapstickaneinanderreihung betrachtet. Die Suche nach dem Herz aus Gold, der wahren Liebe, und dem Ursprung des Weltalls wird eine bloße Posse und am Ende ist die Inszenierung, trotz vieler sehr guter Pointen und exzellenter Bühneneinlagen, nicht ein Aufbruch ins Unbekannte, sondern nur ein Aufbruch ins Nichts, der sich wie folgt zusammenfassen ließe: Ivon Tichy fuhr los und er kam wieder. Dass die existenziellen Fragen der Sterntagebücher außenvor blieben, ist sehr bedauerlich.
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