Alles Weitere

Grafik: Carina Columna

Wie oft hatte er schon das Gefühl gehabt, an einem entscheidenden Wendepunkt seines Lebens zu stehen! Was hatte es damit auf sich? War es nicht mehr eine Flucht aus der Alltagsbanalität in die geweihte Welt der Bedeutsamkeit? War es nicht eher eine Art Rauschzustand, in den er sich in regelmäßigen Abständen immer wieder zu versetzen verstand? Was erwartete er?

Nichts, lautete seine Antwort auch dieses Mal. Und er blieb dabei, trotz des stillen Verdachts, diese Antwort sei falsch, ja verlogen. Auf dem Sofa liegend, während draußen die Welt ihren Tanz aufführte, nicht einmal interessiert, aus dem Fenster zu sehen, empfand er deutlich, nichts zu erwarten. Er fühlte sich, als habe er eben in der Zeitung gelesen, am Leben zu sein. Aber eben – und das war das Auszeichnende – in aller Ruhe und Gelassenheit. Er hätte darüber kein Wort gewinnen können; und wäre, so unwahrscheinlich es auch war, jemand gekommen, so hätte es ihn augenblicklich zurückversetzt. Dieser Zustand war so eng an das Alleinsein gebunden, dass auch nur die Stimme der Nachbarin aus dem dritten Stock gereicht hätte, ihn aufzulösen. Dann hätte er wieder mitgetanzt, erwartbare Antworten gegeben, sich akzeptabel gekleidet, beständig lebenserhaltende und -verbessernde Maßnahmen ergriffen, gegessen und getrunken; er wäre zum Strand gefahren und hätte sich einen Reim auf das Leben gemacht. So aber lag er da in großzügiger Nichterwartung. Und wenn jetzt der Alarm ertönte? Wenn die Nachbarin schrie, so, als bräuchte sie jetzt, so schnell es nur geht, Hilfe? Wer aber konnte schneller bei ihr sein als er? Und wenn man den Weltfrieden verkündete? Wenn alle Menschen zusammenkämen, sich zu einigen? Man würde ihn doch, und sei es aus irgendeinem dummen Zufall, früher oder später finden. Und man würde Fragen stellen. Warum haben Sie auf den Alarm nicht reagiert? War er Ihnen nicht zu hören? Und Ihre Nachbarin, warum haben Sie ihr nicht geholfen? Und als es hieß, alle sollten nach draußen auf die Straße kommen, den Weltfrieden zu empfangen, wo waren Sie da?


Man würde Dinge finden in seiner Wohnung, die nicht mehr zum neuen Weltzustand passten. Die Gutachter würden einander misstrauisch ansehen (wie aber können sie das noch?) und ihn weiter prüfen, geduldig, aber nicht, ohne den Grundtenor ihrer Fragen immer wieder durchklingen zu lassen. „Wir sehen hier auffällig viel Eigentum, zu welchem Zweck besitzen Sie es? Auch verfügen Sie über Wohnungsschlüssel und haben Ihre Klingel noch nicht abschalten lassen; war denn keiner bei Ihnen? Sie verdunkeln Ihre Schlafzimmerfenster, leiden Sie an Lichtempfindlichkeit? Aber nein, hier in der Stube ist es ja ganz und gar hell… Sagen Sie, lieben Sie auch das Leben?“

Der Nebenaufseher zeigte in Richtung der Zimmerdecke der Stube und flüsterte dem Hauptgutachter etwas ins Ohr. Er könnte den Rauchmelder gemeint haben oder den großen altertümlichen Kerzenleuchter, den unser Kontraponist, der Herr auf dem Sofa, vor Urzeiten und sehr günstig auf einem Trödel erworben hatte.

„Sie haben romantische Neigungen? Aber Sie werden sich doch gefreut haben, als Frieden beschlossen wurde!“ Der Herr verstand nicht und wollte gerade etwas sagen, da fiel der Frager ihm schon ins Wort. „Sagen Sie, Herr, leben Sie allein?“ Er nutzte die Möglichkeit, Antwort geben zu können. „Ja, außer mir wohnt hier niemand.“ „Und es geht Ihnen gut?“ „Ja“, sagte er, noch das letzte bisschen Antwortvermögen aufzehrend. „Wo waren Sie am Tag der Tage?“ –„Sie meinen, als –“, quälte es sich dem Herren heraus, doch schon wurde er unterbrochen. „Am Tag der Tage, beantworten Sie einfach meine Frage“, sagte der Hauptgutachter, bemüht lächelnd. „Ich habe auf dem Sofa gelegen.“ „Auf dem Sofa gelegen“, murmelte der Auf- und Abseher, die Worte notierend. „Letzte Frage, Herr“, stieß der Gutverachter jetzt fast euphorisch heraus, „was erwarten Sie von der Zukunft?“

Der Herr schwieg und da er lange schwieg, wurden die zwei Besucher allmählich ungeduldig. Nach einigen Minuten bedeutete der eine dem anderen, es sei nun Zeit, zu gehen. Aus dem Türrahmen drehte der erste sich noch einmal um und sah dem Herren gespenstisch in die Augen. „Wir erwarten Ihre Antwort schriftlich und werden alles Weitere veranlassen.“


Die Tür schloss merklich und dem Herren blieb, zu warten. Erwarten konnte er immer noch nichts, denn „alles Weitere“ war selbst ihm zu vage. Nur jetzt war sein Warten nicht mehr leicht und beschwingt. Jene Ruhe vom Morgen des Tages war seither nie wieder erreicht worden; im Gegenteil herrschte auf den Straßen durchweg Lärm und Gelächter.

Da er, um dies ertragen zu können, inzwischen vollumfänglich erstarrt war, nahm er kaum Notiz, als sie ihn eines Tages abholten und ihn, weil er davon nicht mehr zu lösen war, samt Sofa auf die lichtdurchflutete Straße stellten. Unerträglich blendete die Sonne; noch aus dem Augenwinkel sah er seine Nachbarin winken.


Über Friedrich Schollmeyer

Friedrich Schollmeyer ist Autor, Musiker, Philosoph. Seit 2017 lebt er wieder in seiner Wahlheimat Leipzig, seit 2023 arbeitet er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Pädagogik der TU Chemnitz im Bereich Erwachsenen- und Weiterbildung. Vor einiger Zeit hat er in Leipzig und Jena Kulturwissenschaften, Philosophie, Soziologie und Pädagogik studiert und anschließend provomiert. Literarisch tätig ist er seit er tippen kann, erste Gedichte entstanden im Grundschulalter auf der Schreibmachine seiner Mutter. 2022 erschien sein Lyrikdebüt Die Schwäne sind verschommen in der Reihe fortfolgendes bei Thelem, 2023 seine bildungsphilosophische Doktorarbeit über den jüdisch-schweizerischen Philosophen Michael Landmann. Im Rahmen biographischer Forschungen zu Landmann war er 2017 für drei Monate in Israel, wo auch der hier abgedruckte Text Alles Weitere entstand. Neben Gedichten schreibt er Kurzprosa und kleinere szenische Stücke. Ein fertiges Romanmanuskript befindet sich derzeit im Feinschliff, schon länger lässt sich ein Dutzend Lieder hinhalten, auf einem Album versammelt zu werden. Selbst ein langes Leben wäre zu kurz.
 
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