Allegorien auf die Klassengesellschaft

Die Premiere von „Ab in den Wald“ an der Oper Halle

von | veröffentlicht am 17.11 2022

Beitragsbild: Anna Kolata

Seit dem 12. November läuft „Ab in den Wald“ an der Oper Halle, eine Neufassung des Broadway-Musicals „Into the Woods“ von 1987. Inszeniert von der Regisseurin Louisa Proske und unter musikalischer Leitung von Yonatan Cohen stellt dieses Werk eine musikalische Bearbeitung verschiedener Märchen dar und zeigt einmal mehr den kreativen Output des halleschen Opernhauses. Was uns dieses Märchen-Potpourri zudem über die moderne Gesellschaft zu sagen hat, habe ich in diesem Text analysiert.


Allegorien auf die Klassengesellschaft



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Das neue Musical in zwei Akten „Ab in den Wald“ an der Oper Halle ist eine sehr eindrucksvolle künstlerische Adaption des Broadway-Musicals „Into the Woods“, das in den 80er Jahren uraufgeführt wurde. Innerhalb der Handlung werden Geschichten von mehreren bekannten Märchen – etwa Aschenputtel, Rotkäppchen, Hans und die Bohnenranke, Rapunzel – miteinander in Beziehung gesetzt. Unter Rückbezug auf den Märchenstoff werden vor allem immer wieder soziale Missstände angesprochen, zu denen das Stück Stellung nimmt. Wiederkehrendes Sinnbild des Ganzen ist der Wald, in den die Figuren immer wieder gehen müssen.

 

ERSTER AKT

Kunst in der Abstiegsgesellschaft

Wirft man einen Blick auf den sozialen Kontext der Entstehung dieser Inszenierung mitten in der Energiekrise, kommt einem ein Buch des Soziologen Oliver Nachtwey von 2016 in den Kopf. Nachtwey analysiert in diesem Buch die Geschichte des modernen Neoliberalismus und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Verwerfungen, aber auch die politischen Entscheidungen, die dies ermöglichten. Die Entstehung weitreichender Niedriglohnsektoren und die Ausweitung prekärer Arbeitsverhältnisse (auch im Kultursektor) infolge von Privatisierungen bewirken eine Angst breiter Teile der Gesellschaft, nicht mehr am propagierten Aufstieg teilhaben zu können. Im Gegenteil sehen sich sogar viele gut ausgebildete Leute immer unsichereren Arbeitsverhältnissen gegenüber. Nachtwey gab diesem Phänomen einen Namen: die Abstiegsgesellschaft.

Es ist kein Zufall, dass „Ab in den Wald“ sich ausgerechnet zu den Kernthemen der Abstiegsgesellschaft äußert: Hans und seine Mutter leben in bitterer Armut, die Hexe sperrt ihre Tochter Rapunzel in einem Turm ein und verfügt sogar darüber, wie ihre Frisur zu sein hat. Rotkäppchen muss sich um ihre kranke Oma kümmern, während die Prinzen in Wohlstand leben. Der Bäcker und seine Frau haben zu wenig Geld und wünschen sich zudem sehnlichst ein Kind, ein Wunsch, dessen Erfüllung sie zu einem Stichtermin bei der Hexe mit vier Gegenständen bezahlen müssen, wenn sie überhaupt Kinder haben wollen. Es sind genau die Themen der heutigen Gesellschaft: Armut, autoritäre Bildungspolitik, Pflegenotstand und die Zunahme chronischer Krankheiten wie Long Covid. In Deutschland besitzt eine extrem reiche Oberschicht große Teile des Vermögens, das wiederum zu großen Teilen wie bei den Prinzen durch Geburt ererbt worden ist. Bäcker sind wiederum derzeit besonders massiv von der Energiekrise betroffen, während Kindergärten und Schulen mit weitreichenden Problemen zu kämpfen haben.

Die Protagonist*innen in „Ab in den Wald“ sind folglich gezwungen, sprichwörtlich wie es in einem Stück heißt, „aus der Not heraus“ in den Wald zu gehen, etwa, wenn Hans die Kuh Milchweiß auf dem Markt verkaufen muss oder der Bäcker und seine Frau im Wald Gegenstände beschaffen müssen, um sich ihren Kindeswunsch zu erfüllen. Dass der Wald auf der Bühne von als Bäumen verkleideten Mitgliedern des Kinder- und Jugendchors der Oper verkörpert wird, zeigt, dass der Wald letztlich eine Allegorie auf die Gesellschaft ist, in der sich die Figuren, in denen man ohne viel Umstand Protagonist*innen des Proletariats erkennen kann, immer wieder bei dem Versuch verirren, ihre Lebensumstände zu verbessern.

 

Die unsolidarische Sehnsucht: der soziale Aufstieg

Aschenputtel wünscht sich nichts sehnlicher, als auf den Ball des Prinzen zu gehen. Sie träumt davon, in der Gesellschaft der Reichen und Mächtigen zu verkehren, aber sie darf nicht zum Ball. Ihre böse Stiefmutter verbietet es und nimmt stattdessen ihre eigenen Töchter mit. Es ist anschaulich im Stück verhandelt, dass Stiefmutter, Töchter und Aschenputtel letztlich einen Traum teilen: den nach sozialem Aufstieg. Statt etwa zu sagen, „weil ihr, die Leute, die mich schlecht behandelt, zum Ball geht, mache ich das gerade nicht“, wiederholt Aschenputtel im Wald den regressiven Anspruch auf Teilnahme am Ball der Mächtigen ihrer Stiefmutter, woraufhin ein Kleid vom Himmel fällt, mit dem sie Zugang zur Welt der Herrschenden bekommt, jedoch immer nur für eine Nacht. Das Begehren nach sozialem Aufstieg schafft plötzlich Allianzen und Interessengemeinschaften zwischen den Antagonist*innen: Die böse Stiefmutter als Herrscherin über die Familie und die dagegen rebellierende Aschenputtel. Beide finden sich jenseits ihres Gegensatzes in diesem Begehren wieder.

Gleichzeitig zerstört dieser Aufstiegsdrang auch die Solidarität innerhalb der Klasse. Um sich den Kinderwunsch zu erfüllen, müssen der Bäcker und die Bäckerin der bösen Hexe vier Gegenstände besorgen. Eins davon ist die Kuh namens Milchweiß, die der arme Hans auf Anweisung seiner Mutter für „mindestens fünf Taler“ verkaufen soll, damit genügend Geld für Essen da ist. Die Kuh ist der letzte Besitz der beiden. Die Bäckerin kauft Hans die Kuh nun für fünf Bohnen ab und behauptet, dass Hans eh nicht mehr als die Bohnen für die Kuh bekommen würde. Fünf Bohnen reichen aber nicht, um Hans und seine Mutter zu ernähren. Die Bäckerin hat sozusagen ihren Klassennächsten übervorteilt. Der Bäcker wiederum versucht wenig später, den Mantel von Rotkäppchen als weiteren Gegenstand für die Hexe einfach zu stehlen. Allerdings sieht er hier seinen Fehler ein und gibt den Mantel zurück.

Die soziale Not und die herrschenden Verhältnisse zwingen die Protagonist*innen des Proletariats dazu, sich untereinander zu entsolidarisieren. Sozialer Aufstieg ist nur auf Kosten derer zu haben, die ihre nackte Existenz sichern müssen und daher nicht aufsteigen können. Der soziale Aufstieg eines Teils der Arbeiter*innen erfolgt zuungunsten der Ärmsten und Schwächsten. Das von den Herrschenden gegebene Versprechen des sozialen Aufstiegs („Kommt zu meinem Ball!“) spielt die unterschiedlichen Interessen innerhalb der Klasse gegeneinander aus, privilegiert einige auf Kosten anderer und untergräbt so die Solidarität. Die kollektive Not, unter anderem verursacht vom Desinteresse der Herrschenden, zwingt die Akteur*innen der Klasse in einen Kampf untereinander statt gegen das Kapital: Union Busting und staatliche Austeritätspolitik erscheinen auf der Bühne.

 

Klassenkonflikte

Aber auch die Konflikte zwischen den Klassen werden in „Ab in den Wald“ verhandelt. Nachdem Aschenputtel auf dem Ball war, flieht sie, wie auch in der Märchenvorlage. Der Prinz jagt sie nach dem Ball durch den Wald, weil er sie offensichtlich gegen ihren Willen heiraten möchte. Zudem schert er sich nicht um die Belange seiner Untertanen. Hans hat aufgrund der mittlerweile entdeckten Zauberkraft der Bohnen eine riesige Bohnenranke entstehen lassen. Nach seinem letzten Ausflug in das Land der Riesen muss er die Ranke aber fällen, da er von einem der Riesen verfolgt wird. Der ihn verfolgende Riese fällt dabei hinunter in den Garten der Mutter. Als die Mutter beim Prinzen klagt, dass ihr Sohn womöglich unter der Ranke begraben sei, reagiert der Prinz nur mit Schulterzucken, übrigens wie alle anderen Figuren auch, und jagt weiter Aschenputtel nach. Der zweite Prinz besucht wiederum heimlich Rapunzel, der er aktiv den Hof macht, ohne sie aber aus dem Turm zu befreien, in den sie ihre Mutter eingesperrt hat. An dieser Stelle ist auffällig, dass der Prinz Rapunzel unerlaubt aus ihren Familienverhältnissen herausreißt (er fragt ihre Mutter, die Hexe, nicht um Erlaubnis), gleichzeitig aber die konkreten Machtverhältnisse der Mutter über ihre Tochter nicht ändert. Denn als Angehöriger der herrschenden Klasse hat er kein Interesse an einer Änderung restriktiver Familienverhältnisse, die er mit seinem heimlichen Werben eher noch verstärkt. Der böse Wolf wiederum, dessen Erscheinung mit Gehrock und Gehstock an einen reichen Adligen oder Fabrikbesitzer des 19. Jahrhunderts erinnert, versucht, Rotkäppchen zu verführen und frisst später sowohl Rotkäppchen als auch ihre Oma. Der Kapitalismus der Mächtigen zerstört, wie wir von Marx wissen, die traditionellen sozialen Bindungen etwa in der Familie oder in der Arbeit, um sie dem Markt, im Falle des Wolfes sprichwörtlich dem Verwertungstrakt, zu überantworten. Dies kann man hier auf der Bühne auch noch an anderer Stelle nachvollziehen, denn obwohl Aschenputtel und ihre Stiefschwestern die Sehnsucht nach dem Ball teilen, zerstört diese Sehnsucht gleichzeitig ihren familiären Zusammenhalt.

 

Akte der Solidarität

Wie nun wehren sich die Protagonist*innen in dem Stück? Klassenkampf bedeutet bekanntlich, gegen die herrschende Ordnung aufzubegehren und die Kontrolle über die Produktionsmittel zu erringen. Dies sind im Rahmen von „Ab in den Wald“ keine großen politischen Umwälzungen, sondern, wie bereits in einem anderen Artikel beschrieben, eine Reihe widerständiger Akte, die letztlich keine Gesamtsiege erringen (wollen), aber dadurch, dass sie die unter Beschuss stehende Solidarität wieder stärken, das soziale Klima fast unbemerkt von den Mächtigen auf ihre Weise revolutionieren. Etwa bietet die Bäckerin Aschenputtel, das vor dem Prinzen flieht, an, den unbequemen hochhackigen Goldschuh Aschenputtels gegen ihre einfachen Hausschuhe zu tauschen, mit denen sie besser vor den Regierenden weglaufen könne. Der Goldschuh ist wiederum für die Bäckerin ein weiterer Gegenstand, den sie der Hexe schuldet. Zudem lügt die Bäckerin den Prinzen mehrfach, trotz angedrohter Todesstrafe, über den Verbleib Aschenputtels an, um ihre weitere Flucht zu decken. Win-win-Situation. Hans klettert über die Bohnenranke in die Welt von den „Riesen da oben“ und stiehlt deren Reichtümer, um auf der Erde vom Bäcker seine geliebte Kuh zurückzukaufen und seiner Mutter ein gutes Leben zu finanzieren. Der Bäcker wiederum tötet den Wolf und befreit Rotkäppchen und ihre Großmutter aus dem Bauch. Dafür bekommt er von Rotkäppchen den roten Mantel geschenkt, den er vorher noch von ihr stehlen wollte. Im Laufe ihrer Suchaktion nach den vier Gegenständen, die sie erst getrennt bewerkstelligen, merken Bäckerin und Bäcker außerdem, „wirklich befreit sind wir nur zu zweit“.

Diebstahl innerhalb der eigenen Klasse ist ein unsolidarischer Akt, da die Not des anderen verschlimmert wird, um die eigene zu senken. Es ist mehr als auffällig, dass „Ab in den Wald“ aber den Konflikt zwischen den Klassen auf die Weise verhandelt, dass Diebstahl, Lügen, Gütertausch ohne Realgewinn, Verschleierungstaktiken, Sabotage oder Neid gegenüber den Herrschenden paradoxerweise die Solidarität innerhalb des Proletariats stärken, indem man zum kollektiven Nutzen gemeinsam denen schadet, die eh viel haben. Die Vergesellschaftung der Reichensteuer sozusagen. Neid und Diebstahl sind hier nun nicht mehr die Befriedigung rein egoistischer Interessen, sondern praktisch ein Ausdruck von Klassenbewusstsein: Wir gegen die.

Das Kapital wiederum antwortet mit einer äußerst effektiven Strategie nicht der Niederschlagung, sondern der Einhegung der Proteste: Rapunzel und Aschenputtel heiraten die beiden Prinzen und werden Teil der königlichen Familie, bekommen also ihre Wünsche erfüllt. Erstere hat zudem Zwillinge bekommen, die die Nachfolge ihres Prinzen sichern. Hans darf die gestohlenen Reichtümer der Riesen behalten und hat zudem noch seine Kuh zurückbekommen. Bäckerin und Bäcker beschaffen der Hexe die vier Gegenstände und dürfen sich bald auf Nachwuchs freuen. Die Forderungen der Einzelinteressen wurden erfüllt, während aber die gesellschaftlichen Verhältnisse unverändert bleiben. Erneut wird hier die Macht des Kapitals vorgeführt, Klassensolidarität anhand von Einzelinteressen zu spalten und so die Arbeiter*innenklasse gefügig zu machen.

 

Die da oben

Die Figuren in „Ab in den Wald“ identifizieren sich am Ende des ersten Aktes mit ihren Beherrschern. Immer wieder geht es im Stück um Aufstiege: Hans klettert auf der Suche nach Reichtum die Bohnenranke hinauf, Aschenputtel will zum Ball, wo sie über eine Treppe nach oben laufen muss. Aber auch der Bäcker muss, um die Wohnung der Großmutter zu erreichen, wo er den Wolf tötet, an der Kulisse hinaufklettern. Die herrschende Klasse wie aber auch zum Beispiel teilweise Aschenputtel und der Bäcker greifen auf die Täuschung zurück, dass, wenn dem Proletariat zugestanden werde, die Strukturen der Herrschaft (Ball, Himmelreich) zu kapern, der Klassenkampf erfolgreich beendet werden könne. Dies mündet in einer Kompliz*innenschaft zwischen den Führungspersonen der Arbeiterbewegung und den Herrschenden, die die rebellische Solidarität gegen „die da oben“ in einen gesamtgesellschaftlichen Konsens überführt, der von den herrschenden Strukturen kontrolliert wird. Das Proletariat verliert seine kritische Funktion und wird Teil des Herrschaftsapparates, in dem es sich einrichtet. Klassenkämpfe finden nicht mehr statt, die Gesellschaft ist befriedet.

 

ZWEITER AKT
Die Rache des Kapitals und die Klimakrise

Nach der Hochzeit im ersten Akt fand während der Pause ein kleiner Zeitsprung statt: Aschenputtel hat nun Regierungsgeschäfte übernommen, der mittlerweile wohlhabende Hans hat die Zeit, den ganzen Tag fernzusehen, und die neue Bäcker*innenfamilie ist mit der schwierigen Balance zwischen Lohnarbeit und Familienleben beschäftigt. Rapunzel wiederum hadert mit den Auswirkungen ihrer repressiven Erziehung und der Überforderung mit ihren Zwillingen. Doch als auffälligste Veränderung führt die Kulisse nun vor, dass der Wald völlig verschmutzt worden ist und zu allem Überfluss treibt nun auch noch eine Riesin ihr Unwesen. Durch die Integration des Proletariats in die herrschende Ordnung und die dadurch betriebene Ausschaltung seines kritischen Potenzials, so könnte man deuten, hat die ungehemmte Politik der Herrschenden dazu geführt, dass der Wald nun eine riesige Müllhalde geworden ist. Die vorher geschauspielerten Bäume sind nun wandelnde Müllhaufen, die Gesellschaft des Waldes wurde zu einer Gesellschaft der Klimakrise.

Die Riesin ist die Ehefrau des Riesen, der beim Sturz von der von Hans gefällten Bohnenranke starb. Sie steht in „Ab in den Wald“ für zwei Dinge gleichzeitig: für eine ungehemmte Macht des Kapitals über Menschenleben und Umwelt einerseits, das nun nicht mehr auf Einhegung, sondern auf Niederschlagung des Protestes setzt, und für eine global umfassende Krise andererseits: die Klimakrise. Die Riesin ist die Protagonistin, die stellvertretend für das Kapital Hans‘ Diebstahl und den Tod eines Kapitalisten rächt und die Arbeiter*innen zertrampelt, die sich im festen Glauben an ein würdiges Leben mit den Herrschenden verbündet haben. Sie führt also vor Augen, dass der Kompromiss der arbeitenden Klasse mit den Herrschenden letztlich immer zugunsten der letzteren verläuft. Während die beiden Prinzen als Träger des herrschenden Kompromisses mit dem Proletariat auftreten (Einhegung), ist die Riesin wiederum die zerstörerische Kraft des Kapitals. Es ist im Stück eindrücklich aufgezeigt, dass selbst in Zeiten der globalen Krisen das Kapital weiß, sich Profite und Verfügungsgewalt über Personen zu sichern. Der eine Prinz begibt sich nach eigener Aussage auf die Jagd nach der Riesin in den Wald, schläft dann aber dort mit der Bäckerin, die ebenfalls im Wald ist. Danach aber inszeniert sich der Prinz wieder in selbstdarstellender Art und Weise als Riesinnenjäger und lässt die Bäckerin alleine im Wald zurück, wo sie von der Riesin zertreten wird. Der Kapitalist in Person des Prinzen inszeniert sich als Lösung der Krise, die das Proletariat mit dem Leben zu bezahlen hat. Aber auch dagegen formiert sich Widerstand. Aschenputtel bekommt die Untreue des Prinzen mit und stellt ihn zur Rede. Als der Prinz darauf beharrt, dass er auch mehrere Frauen lieben und besitzen könne, trennt sie sich von ihm. Sie löst die Kompliz*innenschaft mit den Herrschenden auf und solidarisiert sich erneut mit den Leuten ihre Klasse.

Um der Riesin Herr zu werden, überlegen die verbliebenen Protagonist*innen zuerst, Hans zu opfern, der ja in der Diktion des herrschenden Kapitals der „Schuldige“ sei: er hat die Riesen bestohlen, den Ehemann der Riesin umgebracht und müsse nun zur Rechenschaft gezogen werden; ein Argument, das zum Beispiel auch der Bäcker wiederholt. Die Mutter von Hans, die das verhindern will und sich der Riesin entgegenstellt, wird vom Kammerdiener des Prinzen erschlagen. Nachdem aber der Bäcker seine Frau verliert, erscheint ihm sein toter Vater, der ihn zum Kampf gegen die Riesin ermutigt. So tun sich die letzten Überlebenden des Riesinnenangriffs – Aschenputtel, Rotkäppchen, der Bäcker und Hans – zusammen, um sich einen Plan auszudenken, wie sie die Riesin in die Falle locken und töten können. Einmal mehr wird ein nach herrschenden Maßgaben unrechter Akt begangen, diesmal aber nicht in Form eines Diebstahls oder einer Lüge, sondern der Beseitigung der Macht des Kapitals an sich. Währenddessen diskutieren Aschenputtel und Rotkäppchen noch, ob man die Riesin, die ja immerhin ein Lebewesen sei, überhaupt töten könne. Und Hans fordert wiederum als Vergeltung für den Mord an seiner Mutter, den Kammerdiener zu töten. Mit einer Hymne auf das „Nicht-alleine-Sein“ können der Bäcker und Aschenputtel aber diese Widersprüche ausräumen und Hans und Rotkäppchen überreden, dass die Beseitigung des Ursprungs der kapitalistischen Herrschaft unumgänglich und daher das Hauptanliegen des Kampfes sei. Zusammen können die vier den Plan umsetzen und die Riesin töten.

 

Die Sehnsucht der Letzten Generation

In seinem eindrücklichen Film „Der junge Karl Marx“ lässt Regisseur Raoul Peck den von Stefan Konarske gespielten Friedrich Engels auf der Konferenz des Bundes der Gerechten eine folgenreiche Einschätzung zur sozialen Lage abgeben. Seinen Gegnern auf der Konferenz, die vom Grundsatz „Alle Menschen sind Brüder“ ausgehen, hält Engels entgegen: „Die Bourgeoisie und die Arbeiter, sind sie Brüder? Nein, das sind sie nicht. Sie sind Feinde.“ Diesem folgend ist ein Kompromiss mit den Interessen der Herrschenden unmöglich. Kompromisse von Teilen der Klimabewegung etwa mit den Grünen oder anderen Regierungsparteien führen nicht zu einer Überwindung der Klimakrise, sondern zu ihrer Verschärfung. Indem die Vertreter*innen des Proletariats in „Ab in den Wald“ sich den Interessen der Herrschenden andienen, in denen sie das Versprechen des sozialen Aufstiegs eingelöst sehen, büßen sie ihre kritische Gegenmasse ein und tragen somit zu einer Eskalation der Klimakrise in Form der Riesin bei. Wie in einem kürzlich erschienenen Artikel von mir gezeigt, ist den Aktivist*innen der Letzten Generation, auch und gerade in Bereichen der Kulturpolitik, häufig Sinnlosigkeit oder Demokratiefeindlichkeit unterstellt worden, weil sie auf Protestformen setzen, die einem Teil der Herrschenden zuwider läuft. Proteste werden nun mit polizeilicher Gewalt unterdrückt.

Doch, wie man auch die konkreten Aktionen der Letzten Generation bewerten möchte, in den Protestformen zeigt sich die Möglichkeit zu einer kompromissloseren Haltung gegenüber den Mächtigen, die nicht auf falsche Kompliz*innenschaft setzt, um nur das nächstmögliche Ziel zu erreichen und letztlich eher zur Eskalation der Krise als zu deren Linderung beizutragen, sondern auf Opposition. Das Ziel dessen ist dann nicht nur eine gewisse Verbesserung der subjektiven Lebensumstände (Ballbesuche, Hochzeiten, Wunscherfüllung, etc.), sondern der Kampf für eine Gesellschaft ohne Kapital. Das Stück „Ab in den Wald“ legt diese Möglichkeit zum radikalen Vorgehen zur Abschaffung des Kapitals ausdrücklich künstlerisch nahe. Nicht das Vergeben ist hier das Ziel des gemeinsamen Kampfes, sondern die Überwindung. Die Figuren, die als Repräsentant*innen des Proletariats auftreten, sind äußerst divers und untereinander nicht durch Familie oder andere traditionelle Bindungen verknüpft. Was sie eint – und das zeigt sich eindrucksvoll darin, dass Aschenputtel, Hans, Rotkäppchen und der Bäcker nach dem Kampf gegen die Riesin beschließen, jetzt eine Familie zu sein und sich gemeinsam um das Kind des Bäckers zu kümmern – ist das gemeinsame politische Interesse, das Kapital zu überwinden. Die Bühne zeigt hier eindrücklich, dass trotz verschiedener persönlicher Interessen gemeinsame Kämpfe möglich sind und Erfolg haben können.

Hauke Heidenreich

… ist Mitglied der Transit-Redaktion und arbeitet als Historiker am Grünen Band Sachsen-Anhalt.

Der Beitrag gibt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wieder.